Kurze Geschichte des Arbeitersports 

 

Gründungs- und Frühzeit

 

7. April 1890 – Im Berliner Friedrichshain gründen 12 Jugendliche ihren eigenen Turnverein. Als Namensgeber wählen sie den deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte und machen dessen Zitat „Gleich sei alles, was Menschenantlitz trägt“ zum Vereinsmotto. Der TV Fichte bleibt zunächst verbandslos und entwickelt sich später zum größten deutschen Arbeitersportverein.

26. Juni 1892 – Die Turnvereine Fichte Berlin, MTV Brandenburg/Havel und MTV Velten schließen sich in Mergers Volksgarten in Brandenburg/Havel zum Märkischen Arbeiter-Turnerbund MATB zusammen.

18. September 1892 – In Berlin treffen sich Arbeiterturner aus Leipzig, Wurzen, Gera, Verden/Aller und Benneckenbeck (heute Magdeburg) zur Vorbereitung der Gründung eines deutschen Arbeiterturner-Verbandes.

21./22. Mai 1893 – In Gera rufen 39 Vertreter von 51 Vereinen mit 3556 Mitgliedern den Arbeiter-Turner-Bund ATB ins Leben. Nach Gründungsbeschluss treten sofort weitere 42 Vereine bei. Sitz des ATB wird Leipzig, als Verbandszeitung erscheint die Arbeiter-Turnerzeitung. Ziel ist der Aufbau einer großen proletarischen Mitgliedschaft. „Als Arbeiter-Turner haben wir zunächst die Aufgabe, den Körper zu stählen und widerstandsfähig zu machen, den körperlichen Nachteilen, die eine moderne Produktion heute mit sich bringt, entgegenzuwirken. Die Erziehung des Jungproletariats zu gesunden, kräftigen, lebensfrohen, energischen Menschen, das ist die Aufgabe des Turnerbundes.“ (§ 2 der ATB-Satzung)

Als Verbandsorgan erscheint zunächst in Probstheida und später im Leipziger Arbeiter-Turnverlag die "Arbeiter-Turn-Zeitung".

 

 

30. Juni 1894 – Der Arbeiter-Turnerbund zählt nach einem Jahr 9112 volljährige Mitglieder in 125 Vereinen.

Pfingsten 1895 – 2. Bundestag in Magdeburg, Beschluss einer Unfallkasse, Verbot des Wetturnens

Pfingsten 1899 – 4. Turnertag in Nürnberg, Einführung von „Frei Heil!“ als Gruß der Arbeiterturner

Pfingsten 1907 – Der 7. Turnertag in Hamburg führt das ATB-Wappen ein.

31. Dezember 1910 – Die Mitgliedschaft ist auf 153.582 Männer und Frauen in 1806 Vereinen gestiegen.

 

Das Banner trägt die Beschriftung "Turn-Verein Fichte Berlin – XII. Schülerabteilung Schönhauser Vorstadt, gegr. 21.11.1907"

 

Anfänge des Arbeiterfußballs

 

1908 – Außer Turnen pflegt der ATB vor allem die Leichtathletik, Gymnastik, einige Ballspiele, Wandern, Geselligkeit und Bildungsveranstaltungen. Es gibt aber auch erste Meldungen von Fußballspielen in ATB-Vereinen, z. B. aus Hanau und Offenbach. 

1. Juni 1909 – Der ATB erlaubt auf seinem 8. Bundestag in Köln wieder das Wetturnen und die Verleihung von „Diplomen“ (Urkunden), außerdem nun auch offiziell das Fußballspielen. Dies ist eine Reaktion auf die zunehmende Beliebtheit dieses Spiels, die inzwischen zu Nachwuchsmangel bei den Turnern führt. Neben dem ATB erkennt wenig später auch die Deutsche Turnerschaft die Zeichen der Zeit und öffnet sich ebenfalls dem zuvor verpönten Fußballspiel.

1. Juli 1909 – Die Arbeiter-Turn-Zeitung bringt erstmals Anleitungen zum Fußballsport. Zu diesem Zeitpunkt hat der 1900 gegründete DFB bereits 881 angeschlossene Vereine mit 60.000 volljährigen Mitgliedern, darunter zunehmend Arbeiter und kleine Angestellte. Die Fußballbewegung ist auf dem Weg zur neuen Massenbewegung.

20. November 1910 – In Berlin finden erstmals im ATB Punktspiele statt. Unter mehreren Abteilungen des TV Fichte sowie Freien Turnerschaften aus verschiedenen Stadtteilen und Vororten Berlins gewinnt nach acht Spieltagen die Freie Turnerschaft Charlottenburg die allererste Arbeiterfußball-Meisterschaft!

Saison 1911/12 – Die 2. Saison der Groß-Berliner Fußballspieler-Vereinigung bestreiten schon 25 erste und 12 zweiten Mannschaften. Mit dem FC Alemannia 1911 Friedrichshagen nimmt erstmals auch ein reiner Fußballclub teil. Meister wird der ATV 05 Weißensee. In Berlin und Umgebung gibt es nun rund 500 organisierte Arbeiterfußballer. Erste auswärtige Gegner kommen aus Forst, Rathenow, Leipzig und Dresden.

 

Fußball-Grundlagenvermittlung in der ATB-Monatsschrift "Moderne Körperkultur", Dezember 1912

 

Ende 1911 – Gründung des Jungdeutschland-Bundes zum Zwecke vormillitärischer Jugendausbildung, Deutscher Fußball-Bund und Deutsche Turnerschaft treten ihm bei. Der Arbeiter-Turnerbund nutzt dies als propagandistische Vorlage, was dem Arbeiterfußball in vielen Reichsgebieten einen Entwicklungsschub verleiht.

1912 – Nach Berliner Vorbild entstehen Arbeiterfußball-Vereinigungen in Bremen und Bremerhaven, der Niederlausitz, in Dresden, Leipzig und Chemnitz und anderswo. Auf Arbeiter-Turnfesten wird das Fußballspiel präsentiert und popularisiert.

10. März 1912 – Erste vierstellige Zuschauerzahl im Arbeiterfußball: Über 1000 Besucher sehen das „Werbespiel“ Nord-Berlin gegen Süd-Berlin (4:3) auf dem damaligen Hertha-Platz am Ringbahnhof Gesundbrunnen.

Sommer 1912 – Gründung der Märkischen Spielvereinigung MSV als Verband der Arbeiterfußballer von Berlin-Brandenburg und Niederlausitz. 60 Berliner Herren-Mannschaften stehen im Spielbetrieb, davon sind mehrere ehemalige DFB-Vereine. Auch Luckenwalde, Rathenow und Brandenburg, Cottbus und Forst ermitteln ihre Arbeitermeister.

 

Kinderturnen im Arbeiterverein, Berlin 1912

 

17. November 1912 – In Berlin gründet sich die Zentralkommission für Sport und Körperpflege ZK als Dachverband diverser Arbeiterverbände. Neben dem Arbeiter-Turnerbund sind dies der Verband Volksgesundheit (1890 gegründet), der Touristenverein „Die Naturfreunde“ (1895), der Arbeiter-Radfahrerbund „Solidarität“ (1896), der Arbeiter-Schwimmerbund (1897), der Freier Seglerbund (1901), der Arbeiter-Athletenbund (1906), der Arbeiter-Samariterbund (1909), der Arbeiter-Wassersportverband (1909), der Arbeiter-Schachbund und der Arbeiter-Keglerbund (beide 1912). Später folgen u. a. der Arbeiter-Schützenbund (1920) und der Arbeiter-Anglerbund (1921). Die Zentralkommission sieht ihre Aufgabe in der „systematischen Agitation gegen die bürgerlichen gleichartigen Verbände mit dem Ziel, die Arbeiter aus diesen Organisationen herauszuholen und deren Beitritt zu solchen Organisationen zu verhindern.“

 

 

Frühjahr 1913 – Große Fortschritte in den meisten der 16 ATB-Kreise. Reichsweit kämpfen bereits 1.009 Mannschaften um Punkte. Zwar geht allgemein der Turnbetrieb zurück, unterm Strich bringen die Fußballer dem ATB aber einen großen Zuwachs, auch durch Aufklärung in proletarischen DFB-Vereinen über deren unfreiwillige Mitgliedschaft im Jungdeutschland-Bund.

1913/14 – Zunehmende staatlicher Repressionen gegen die Arbeitersportbewegung. Bis Sommer 1914 werden in Berlin-Brandenburg fast alle 114 ATB-Vereine nach § 3 und 17 des Reichs-Vereinsgesetzes für politisch erklärt. Das bedeutet das Verbot von Jugendabteilungen und das Nutzungsverbot öffentlicher Sportanlagen. Anfang 1914 folgt das Jugendturnverbot auch in Württemberg, Bayern und anderen deutschen Staaten. Trotzdem finden in 14 von 16 ATB-Kreisen bereits Bezirksmeisterschaften statt, im 1. Kreis (Berlin-Brandenburg) und im 10. Kreis (Baden, Elsass-Lothringen und Pfalz) werden auch schon Kreismeister ermittelt. Nur im 14. (Schlesien) und 16. Kreis (Provinz Posen) gibt es noch überhaupt keine Serienspiele.

 

Milch-Karte für den kontingierten Milchbezug vom 1. bis 30. April 1916 in Lichtenberg

 

1. August 1914 – Kriegseintritt Deutschlands. Bürgerlicher und proletarischer Sportverkehr werden zunächst völlig eingestellt und ab Oktober 1914 in reduziertem Umfang wieder aufgenommen. Die Burgfriedenpolitik führt noch im August 1914 zur Abschaffung der Sonderverordnungen gegen die SPD, die ATB-Vereine durften nun wieder öffentliche Turnhallen und Plätze nutzen.

1914-1918 – Die Zahl der ATB-Vereine fällt kriegsbedingt von 2411 auf 1198. Fast alle männlichen Arbeitersportler, davon 15.000 Fußballer, sind im Krieg. 35.000 von ihnen kehren nicht zurück. (Vergleichszahlen der Deutschen Turnerschaft: 1913/14: 1.340.000 Miglieder, 1918 noch 840.000, 300.000 Kriegstote)

 

 

Arbeiterfußball in der Weimarer Zeit

 

November 1918 – Der Kieler Matrosenaufstand am 8. 11. löst die Novemberrevolution aus. Tags darauf dankt Kaiser Wilhelm II. ab, das Amt des Reichskanzlers übernimmt der Sozialdemokrat Friedrich Ebert. Der SPD-Vorsitzende Philipp Scheidemann ruft die deutsche Republik aus. Zu den ersten Verfügungen der neuen Machthaber gehört die Unterzeichnung des Waffenstillstandes, die Einführung des Achtstundentages ab dem 1. Januar 1919 und das allgemeine und gleiche Wahlrecht. In den kommenden Jahren erlebt die deutsche Sportbewegung einen Boom. Trotz Verarmung und Unterernährung vervielfacht sich die Zahl der Aktiven und Zuschauer.

Pfingsten 1919 – 12. Bundestag des ATB in Leipzig. Der aktuelle Mitgliederstand liegt bei 188.500, ein Plus von 1500 gegenüber dem 1. August 1914. Von den nun 2.513 ATB-Vereinen sind seit Kriegsende 233 aus Deutschee Turnerschaft und DFB herübergewechselt. Der ATB beschließt seine Umbenennung in Arbeiter-Turn- und Sportbund ATSB. Für 1920 wird die Austragung der ersten reichsweiten Fußballmeisterschaft beschlossen. Der ATSB bekennt sich zu Klassenkampf und Sozialismus, nicht aber zur Diktatur des Proletariats. In allen ATSB-Kreisen sind die Sozialdemokraten in der Mehrheit, nur in Berlin-Brandenburg hat sich durch die Revolutionsereignisse eine deutliche kommunistische Mehrheit unter den Arbeitersportlern herausgebildet.

 

 

3. August 1919 – Arbeiter-Turn- und Sportfest im Deutschen Stadion in Berlin. 18.000 Zuschauer beim Spiel der Berlin-Auswahl gegen Cottbus/Forst (0:1) sind ein neuer Zuschauerrekord im Arbeiterfußball.

19. Juni 1920 – Erstes offizielles internationale Nachkriegsspiel: SV Weser 08 Bremen – Upricht Holland 3:0

11. Juli 1920 – In Leipzig wird der erste ATSB-Meister gekürt: TSV 1895 Führt siegt 3:2 gegen den TSV Süden Forst 07.

12. September 1920 – Die 1914 in Belgien gegründete Arbeitersport-Internationale wird reanimiert und nach dem Kongressort in Luzerner Sportinternationale LSI umbenannt.

Ende 1920 – Der ATSB zählt nun 58.450 Fußballer in seinen Reihen und hat seit Kriegsende 306 ehemalige DFB-Vereine dazugewonnen.

 

Massengymnastik von 10.000 Turnern beim 1. ATSB-Bundesfest 1922 in Leipzig, am rechten Bildrand der Musikpavillon

 

Sommer 1921 – Der ATSB führt den alljährlichen Reichs-Arbeitersporttag ein. Bei der Premiere in Berlin ist das Deutsche Stadion mit 45.000 Plätzen ausverkauft. Durch das Spiel zweier Berliner Auswahlmannschaften ist dies auch ein neuer deutscher Zuschauerekord. Insgesamt beteiligen sich am ersten RAST 105 Ortskartelle mit 219.30 Aktiven und 580.000 Zuschauern.

In Moskau gründet sich die Rote Sport-Internationale RSI als kommunistische Konkurrenz zur sozialdemokratischen LSI.

10. Juli 1921 – Die 2. ATSB-Fußballmeisterschaft endet mit einem 3:0 des Turnerbundes Leipzig-Stötteritz gegen den Berliner FC Nordiska von 1913.

22. bis 24. Juli 1922 – 1. Bundesfest des ATSB mit über 100.000 Teilnehmern und Massenübungen von 21.000 Aktiven auf dem Turnfest-Platz auf dem Leipziger Messegelände. Zehntausende sehen das Endspiel Turnerbund Leipzig-Stötteritz 1892 – BV Kassel 06 (4:1).

 

Um die Sächsische Kreismeisterschaft 1924: Dresdner SV von 1910 – VfL Leipzig-Stötteritz 6:0 (Rainer Hertle, Halle)

 

8. Juli 1923 – 4. Bundesendspiel: VfL Leipzig-Stötteritz – Berliner FC Alemannia 22 1:0 in Leipzig

9. September 1923 – Erster offizieller deutsch-sowjetischer Sportvergleich: Die Auswahl der Märkischen Spielvereinigung unterliegt der sowjetischen Nationalmannschaft mit 0:6 im Stadion Lichtenberg vor – laut kommunistischer Presse – 25.000 Zuschauern (tatsächlich wohl eher um die 8.000).

26. Juli 1924 – 5. Bundesendspiel: Dresdner SV von 1910 gegen Stern Breslau 6:1 in der Dresdner Ilgen-Kampfbahn.

11. Oktober 1924 – Bundesmeister Dresdner SV tritt im ersten Länderspiel des ATSB für Deutschland in Paris gegen eine Arbeiterauswahl an und siegt 3:0. Im Rückspiel am 17. Oktober 1924 siegt der DSV in Dresden mit 2:1.

1. Januar 1925 – Die Fußballsparte des ATSB umfasst nun 91.449 volljährige Mitglieder, davon 347 Frauen.

27. Juni 1925 – Im 6. Bundesendspiel schlägt der Dresdner SV den SV Stralau 1910 aus Berlin mit 7:0!

24. bis 28. August 1925 – I. Arbeiter-Olympiade in Frankfurt/Main mit 10.000 Sportlern aus 14 Ländern und der Freien Stadt Danzig. Hauptaustragungsort ist das kurz zuvor eröffnete Waldstadion. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Olympischen Spielen dürfen bei den Arbeitersportlern auch schon die Verlierer des Weltkrieges teilnehmen. Das Olympische Fußballturnier gewinnt die ATSB-Auswahl vor 40.000 begeisterten Zuschauern gegen Finnland.

 

Einmarsch der Ländermannschaften zur Eröffnung der Frankfurter Arbeiter-Olympiade

 

25. August 1925 – Bundesmeister Dresdner SV spielt in seinem jüngst eröffneten Stadion 1:0 gegen eine Auswahl aus dem ukrainischen Charkow. Da der ATSB das Spiel nicht gestattet hatte, schließt er seinen Bundesmeister bis 15. November vom Spielbetrieb aus!

29. Mai 1926 – 7. Bundesendspiel: Dresdner SV – TSV Süden Forst 07 5:1.

Juli/August 1926 – Der russische Meister Dynamo Moskau gewinnt alle sieben deutsch-sowjetischen Freundschaftsspiele deutlich, gegen den ATSB-Meister Dresden sogar 10:1 und gegen Westdeutschland 12:2 vor 50.000 Zuschauern in Köln-Müngersdorf.

 

ATSB-Gelände mit Bundesschule an der Fichtestraße in Leipzig-Südvorstadt

 

10. September 1926 – Feierliche Eröffnung der ATSB-Bundesschule in Leipzig nach zweijähriger Bauzeit. In der Bundesschule fanden bis 1933 über 200 Lehrgänge mit über 6000 Teilnehmern statt. Zur Ausstattung gehörten Turnsäle, ein Tagungssaal mit Empore, Schwimm- und Ruderanlagen, Übernachtungsmöglichkeiten und mehr.

30. April 1927 – Der Dresdner SV gewinnt durch ein 4:1 gegen Nürnberg-West den 4. Titel in Folge und avanciert zum alleinigen (und ewigen) Rekordmeister des ATSB.

 

Werbung für das Spiel noddeutscher Arbeiterfußballer gegen eine Donezk-Auswahl am 3. Oktober 1926, Resultat 1:2 vor 12.000 Zuschauern auf dem Platz von Victoria Hamburg

 

2. Juli 1927 und 10. Juli 1927 – Höhepunkt des Jahres sind die beiden offiziellen Länderspiele zwischen ATSB und Sowjetunion. In Leipzig siegen die unterforderten Russen mit 8:2, acht Tage später erreichen die Deutschen auf dem Victoria-Platz in Hamburg immerhin ein 2:4. Auch die sechs weiteren Freundschaftsspiele gewinnen die Russen, darunter ein 3:0 gegen den Dresdner SV.

6. Mai 1928 – Neuer Meister nach vier Jahren DSV-Dominanz: Der Pankower SC Adler 08 schlägt im 9. Bundesendspiel den ASV Frankfurt-Westend mit 5:4 nach Toren.

 

Schlusspiel um die Bundesmeisterschaft 1928: Pankower SC Adler 08, hier im Angriff, siegt gegen ASV Frankfurt-Westend 96 5:4

 

Spaltung des Arbeitersports und die Zeit danach

 

23. Juni 1928 – Eröffnung des 16. Bundestages in Leipzig. Der ATSB-Vorstand wirft kommunistischen Delegierten vom TSV Fichte Berlin organisationsschädigendes Verhalten vor. Die Versammlung entzieht ihnen nach Abstimmung die Mandate. Die Spannungen zwischen sozialdemokratischer ATSB-Führung und kommunistischer Mehrheit in Berlin und Umgebung führen zum Ausschluss des dortigen Arbeitersportkartells aus dem Bund.

Die Bundestreuen gründen ein neues Sportkartell, dem aber nur eine Minderheit der Berliner Arbeitersportler und -vereine beitritt, so dass die Ausgeschlossenen ihren Sportbetrieb wie gewohnt weiterbetreiben, nun aber außerhalb des ATSB. In Berlin werden daher von nun an in allen Disziplinen zwei Arbeitermeister ermittelt, ein oppositioneller und ein bundestreuer. Der amtierende ATSB-Meister Adler 08 gehört zu den Oppositionellen und hat dadurch keine Möglichkeit, seinen Titel im nächsten Jahr zu verteidigen. Die Spaltung erfasst nach und nach alle anderen Landesgebiete und führt schließlich zur Bildung eines KPD-nahen Sportverbandes.

 

Ausgabe "Nordischer Arbeitersport" vom 4. Juni 1929 mit dem frischgekürten Bundesmeister Lorbeer 06 Hamburg auf dem Cover

 

25. Mai 1929 – Der SC Lorbeer 06 Hamburg gewinnt mit 5:4 gegen die Freie Turnerschaft Döbern die 10. ATSB-Meisterschaft.

26. Mai 1929 – Die Ausgeschlossenen gründen die Interessensgemeinschaft zur Wiederherstellung der Einheit im Arbeitersport, kurz IG. Nach eigenen Angaben hat sie 50.000 Mitglieder, 20.000 mehr als vom ATSB ausgeschlossen wurden.

Pfingsten 1929 – 1. Reichstreffen der oppositionellen Arbeitersportler in Erfurt mit 40.000 Teilnehmern. Der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann spricht auf der Hauptkundgebung auf dem Domplatz. Nach eigenen Angaben ist die IG bereits auf 150.000 Mitglieder und „Sympathisanten“ angewachsen.

Juli 1929 – 2. Deutsches Arbeiter-Turn- und Sportfest des ATSB mit 120.000 Teilnehmern in Nürnberg.

 

 

September 1929 – Umbenennung der IG in Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit, kurz KG.

Oktober 1929 – Der vierfache ATSB-Meister Dresdener SV spaltet sich in einen bundestreuen und einen oppositionellen Verein. Andere Vereine folgen diesem Beispiel, so dass es namensgleiche Vereine in den sich gegenseitig bekämpfenden Arbeiterverbänden gibt.

25. Mai 1930 – 11. ATSB-Endspiel: TSV Nürnberg-Ost gegen Bahrenfelder SV 1919 Hamburg 6:1.

7. August 1930 – Eine KG-Fußballauswahl geht auf Tournee durch die Sowjetunion. In zwei Monaten absolviert sie 16 Spiele mit acht Siegen und drei Remis. Alle 5 Niederlagen enden mit nur einem Tor Unterschied.

Ende 1930 – Die Kampfgemeinschaft gibt nach eigenen Angaben 21 regelmäßige Publikationen mit monatlicher Gesamtauflage von 180.000 heraus und hat 210.000 Mitglieder. Der ATSB zählt in 7018 Vereinen 542.880 Erwachsene und 178.342 Kinder, die ATSB-Fußballsparte 124.467 Erwachsene, davon 578 Frauen. Der Deutsche Fußball-Bund ist auf eine Million angewachsen, die Deutsche Turnerschaft auf 1,6 Millionen.

 

Aufnäher der "Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit", daneben eine Nadel der Roten Sport-Internationale (RSI), dem damaligen internationalen Dachverband der kommunistischen Sportverbände

 

12. Januar 1931 – Neugründung des ASV Fichte Berlin als Zentralverein Fichte. Dieser wächst bis Ende des Jahres auf 25.000 Mitglieder an und ist damit größter deutscher Sportverein seiner Zeit.

17. Mai 1931 – 12. Bundesendspiel: SC Lorbeer 06 Hamburg – Sportvereinigung von 1912 Pegau 4:2 vor 22.000 Zuschauern auf dem Platz von Victoria Hamburg.

Juli 1931 – Die Internationale Spartakiade zum 10. Geburtstag der Roten Sport-Internationale in Berlin wird vier Tage vor Beginn vom Polizeipräsidenten verboten und den sowjetischen Sportlern die Einreise verwehrt. Die KG unterläuft das Verbot durch zahlreiche Sportveranstaltungen, darunter ein gut besuchtes Volkssportfest am 17. Juli im Post-Stadion.

 

Nicht alle Arbeitersportler agitierten zur Reichstagswahl am 6. November 1932 für die Liste 3, sondern nur die Anhänger des kommunistischen "Rot-Sport", da die KPD Listenplatz 3 hatte.

 

Juli/August 1931 – 2. UdSSR-Tournee der KG-Ländermannschaft, 5 Siege und zwei Unentschieden in elf Spielen.

29. August 1931 – Endspiel um die 1. KG-Reichsmeisterschaft: Dresdner SV – Sparta Lichtenberg 3:2

21. Mai 1932 – 13. und letztes ATSB-Endspiel: TSV Nürnberg-Ost – FT Cottbus 93 4:1 vor 7420 Zuchauern im Städtischen Stadion Nürnberg.

September bis November 1932 – 3. UdSSR-Tournee der KG-Länderauswahl, 19 Spiele mit 9 Siegen und 6 Remis.

25. September 1932 – Beginn der 1. Fußball-EM der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale SASI (zuvor LSI). Deutschland verliert zum Auftakt 0:1 gegen den Titelfavoriten Österreich.

 

EM-Spiel Deutschland (längsgestreift) – Österreich in der Dresdner Ilgen-Kampfbahn

 

11. Dezember 1932 – Endspiel um die 2. KG-Reichsmeisterschaft: FT Jeßnitz – BV Gelsenkirchen-Bismarck Ost 8:0 (2:0) in Bitterfeld

26. Dezember 1932 – 2. EM-Spiel: Deutschland – Polen 4:1 vor 17.000 im Stadion des VfL-Südost Leipzig. Dieser Sieg ist zugleich das letzte von 76 ATSB-Länderspielen.

27./28. Februar 1933 – Reichstagsbrand; noch in der Nacht verhaften die Nazis führende Kommunisten, darunter leitende Funktionäre der KG, deren Spielbetrieb daraufhin zusammenbricht. Die Büroräume im Berliner Karl-Liebknecht-Haus werden am 28. Februar polizeilich geschlossen, die Einrichtung beschlagnahmt, die Konten gesperrt.

25. März 1933 – Polizeibesetzung der ATSB-Geschäftsstelle, des Arbeiter-Turnverlages und der Bundesschule in der Leipziger Fichtestraße. Der ATSB ist damit praktisch handlungsunfähig und kann keine Sportveranstaltungen mehr durchführen.

 

Letzte Ausgabe des "Berlin-Brandenburger Arbeitersport", 5. April 1933

 

28. April 1933 – Das sächsische Innenministerium erklärt den ATSB für verboten.

Frühjahr bis Sommer 1933 – Nationalsozialistische Gleichschaltung des deutschen Sports. Ehemalige Arbeitersportvereine werden verboten oder lösen sich selbst auf (z. B. Fichte Berlin), einige arrangieren sich bald mit den neuen Verhältnissen und finden Aufnahme im DFB. Andere treten zu DFB-Vereinen über oder gründen sich zur Tarnung unter anderem Namen neu (z. B. Sparta Lichtenberg, neuer Name SC Empor).

 

 

1933 bis 1935 – Materielle Verwertung des ATSB-Vermögens, darunter 230 selbstgeschaffene Turnhallen, 1300 Sportplätze, 20 Freibäder, 55 Bootshäuser, fünf Kreissportheime sowie die Bundesschule, die ATSB-Geschäftsstelle, der Arbeiter-Turnverlag und mehrerer Wohnhäuser im Gesamtwert von 25 Mio. Reichsmark. 

Unter der Diktatur entschlossen sich zahlreiche Arbeitersportler, sowohl aus dem ATSB als auch von Rotsport, zum Widerstand. Die Folgen waren Festnahmen, Folter, Haftstrafen und Ermordungen.

nach 1945 – Neugründung hunderter ehemaliger ATSB- und KG-Vereine, jedoch keine Wiederbelebung der beiden Arbeitersportverbände.

 

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© Christian Wolter

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