Arbeitersport-Werbelauf "Quer durch Lichtenberg" am 10. September 1922

 

Sportlermärsche und Straßenläufe gehörten zu den Propaganda-Mitteln, die in der Zwischenkriegszeit für Sportvereine üblich waren. Es gab viel weniger als heute Verkehr auf den Straßen, Genehmigungen für Straßenabsperrungen waren daher leichter zu bekommen. Die Austragung solcher Umzüge und Läufe kostete nicht viel Geld, erregte aber die Aufmerksamkeit aller Passanten, und auch die Lokalpresse berichtete. Manche dieser Reklameaktionen wurden daher alljährlich wiederholt. 

Unser Beispiel aus Berlin-Lichtenberg war Anfang der 20er Jahre bereits zu einer Tradition geworden. Unter dem Motto "Quer durch Lichtenberg" richteten die drei Abteilungen der Freien Turnerschaft Lichtenberg alljährlich im Spätsommer ihren Propagandalauf aus. Teilnehmen durften daran auch Starter auswärtiger ATSB-Vereine.

 

Hinweis auf den Lichtenberger Werbelauf im Berliner "Arbeiter-Sport" vom 6. September 1922

 

Drei Tage nach der Veranstaltung brachte der "Arbeiter-Sport", Wochenblatt des Berliner Arbeitersport-Kartells, folgende Schlussbetrachtung: "Wie alljährlich hatten die 'Lichtenberger' die Brudervereine zur Teilnahme an ihrem Propaganda-Staffellauf aufgerufen und es traten am Sonntag rund 800 Arbeiter-Sportler auf den Plan, um der Lichtenberger Arbeiterschaft ihr Können zu zeigen. Das gute Wetter hatte viele Neugierige auf die Straße gelockt und Start, Ziel und auch die Straßenkreuzungen waren von Zuschauern so dicht besetzt, daß die Ordner nur mit vieler Mühe den Läufern freie Bahn halten konnten.

Die gute Besetzung der Konkurrenzen und die erreichten Leistungen dürften den noch im bürgerlichen Fahrwasser segelnden 'Auch-Arbeitersportlern' zur Genüge gezeigt haben, daß auch bei uns Sport betrieben wird, der mit einem Achselzucken nun doch nicht mehr beiseite geschoben werden kann."

Im 8000-Meter-Einzellauf belegte wie erwart Max Wagner (TSV Eiche 05 Leipzig) Platz 1. Bei seinem Start-Ziel-Sieg lag er 300 Meter vor Heintz (ASC Berlin), demdamals  besten Meilenläufer des Berlin-Brandenburger Arbeitersports. Max Wagner war überhaupt der überragende Langstrecken-Läufer im Arbeiter-Turn- und Sportbund und spätestens von 1922 an immer in den Siegerlisten des ATSB präsent. In der ewigen Höchstleistungs-Liste des ATSB konnte er sich dreimal verewigen, darunter mit seinem Sieg bei der Wiener Arbeiter-Olympiade über 1500 Meter. 

 

Starterfeld beim Herren-Einzellauf, im Hintrergrund ist das Lichtenberger Rathaus zu sehen.

 

Resultate Männer-Staffel 8000 m

1. ASC Berlin 19:54,8 min, 2. ASV Fichte Groß-Berlin Abt. Ost 20:08, 3. Freie Turnerschaft Lichtenberg I 20:20, 4. ATV 1905 Weißensee 21:58

 

Männer-Einzellauf 8000 m

1. Max Wagner (TSV Eiche 05 Leipzig) 26:52,8, 2. Heintz (ASC Berlin) 28:09, 3. Wolgast (ATV 1905 Weißensee) 28:15, 4. Heinrich (Freie Turnerschaft Groß-Berlin Abt. Nord) 28:21,02

 

Jugend-Staffel 3000 m: 1. Fichte Berlin Abt. Ost I 7:05,6, 2. ASC Berlin 7:15,2, 3. FT Groß-Berlin Abt. Nord 7:33,3

 

Jugend-Einzellauf 3000 m: 1. Meißner (Freie Turn- und Sport-Vereinigung 1903 Spandau) 10:27,4, 2. Petzold (FT Schenkendorf bei Mittenwalde) 10:35, 3. Benecke (Fichte Abt. 13) 10:43,5, 4. Land (FT Lichtenberg) 10:47,4

 

Frauen-Staffel 1500 m: 1. ATV 1905 Weißensee 3:36,2, 2. FT Lichtenberg 3:40,7, 3. FTGB 3:41

 

Knaben-Staffe 1500 m: 1. FTGB Abt. Wedding 3:35, 2. Fichte 10 b 3:35,2, 3. Fichte 22 3:45

 

Mädchen-Staffel 1500 m: 1. FT Lichtenberg III 4:06, 2. FT Lichtenberg II 4:06,4

 

 

Nun noch ein Blick auf die Vereinsembleme. Rechts neben dem Herrn mit der Startnummer 219 ist zweimal das Wappen der Freien Turnerschaft Groß-Berlin zu erkennen: oben die Beschriftung "FTGB", darunter der Berliner Bär. Die FT Groß-Berlin war 1919 als sozialdemokratische Abspaltung aus dem kommunistisch dominierten Arbeiter-Turnverein Fichte Berlin entstanden, u.a. als Reaktion auf den Fichte-Beschluss, sozialdemokratischen Mitgliedern keine Vereinsfunktionen anzuvertrauen.

Zur vollständigen Entschlüsselung des Kreisemblems daneben reicht die Auflösung leider nicht aus. TV dürfte aber für Turnverein stehen. Klein links und rechts davon scheint ein Kürzel für einen Ort und eventuell der Zusatz "Süd" zu stehen.

Dahinter halb verdeckt ein großes T und ein kleineres G, falls es sich beim verdeckten Buchstaben um ein F handelt, so gehört der Trikotträger einer Freien Turnerschaft aus einem Ort (oder Ortsteil) mit G an. Allerdings ist dann ein Verein aus Berlin und Umgebung auszuschließen. Die geographisch nächstgelegene FTG war vielleicht die Freie Turnerschaft Gardelegen in der Altmark, deren Fußballer im 1. Kreis des ATSB (Berlin-Brandenburg) mitspielten.

Gut zu erkennen ist das nächste Emblem mit einem formschönen Fraktur-F. F wie Fichte? Die Vermutung ist naheliegend, aber umindest einige Fichte-Abteilungen traten mit eigenen Emblemen an, ehe ab ca. 1927 alle Vereinssparten unter einem einheitlichen, aus einem gleichseitigen Dreieck geschnittenen F antraten. Das F in unserem Bild steht vielleicht für einen Ort oder Berliner Ortsteil, vielleicht Friedrichshagen oder Friedenau.  

 

 

Beim Zeichen auf dem weißen Trikot links ist nur das ATSB-Turnerkreuz erkennbar, nicht der klein gestickte Ortsname darüber. Links dahinter steht ein Athlet mit Aufschrift "Eiche", er startet für den TSV Eiche Köpenick. 

Das L im Kreis ist zweifellos das Logo der Freien Turnerschaft Lichtenberg. Mitunter wurde es um die Ziffern 1 (Abt. Rummelsburg), 2 (Abt. Lichtenberg) und 3 (Abt. Friedrichsfelde) ergänzt. Die FT Lichtenberg gehört übrigens zu den Vorgängern des heutigen SV Lichtenberg 47, der deshalb ein ganz ähnliches Emblem trägt!

Der nächste Trikotaufnäher enthält die Buchstaben N und B sowie einen Anker-ähnlichen Schnörkel, der die Buchstaben F und T darstellen könnte. Wir tippen daher auf Freie Turnerschaft Neukölln-Britz. Eindeutig ist das Wappen des ASC Berlin. Beim Logo am rechten Bildrand müssen wir leider wieder passen. 

 

Zum Schluss unserer Betrachtung würdigen wir noch einmal den Sieger des Einzellaufes bei "Quer durch Lichtenberg 1922" – Max Wagner vom TSV Eiche 05 Leipzig (Bildmitte):

 

 

Unser Dank für das Bildmaterial geht an Dr. Dirk Moldt vom Museum Lichtenberg! Das Hauptfoto zu diesem Artikel zeigt eine Arbeitersport-Veranstaltung 1922 im Stadion Berlin-Lichtenberg. 

 

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© Christian Wolter

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