Der gelernte Tischler und Arbeitersportler bei Fichte Berlin Alfred Neumann (1909–2001) gehörte in der DDR zu den wichtigsten Politikern. Er fungierte u.a. als stellvertretender Oberbürgermeister von Ost-Berlin (1951–1953), Erster Sekretär der Berliner SED-Bezirksleitung (1953–1957), Mitglied des ZK der SED (1954–1989) und des Politibüros (1958-1989) sowie als Minister für Materialwirtschaft der DDR (1965–1968).
Ab 1993 berichtete Alfred Neumann in mehreren Gesprächen mit dem Historiker Siegfried Prokop über seinen Werdegang vom Arbeiterkind zum DDR-Politiker. Die Gespräche erschienen 2009 unter dem Titel "Ulbrichts Favorit: Erinnerungen von Alfred Neumann" im Verlag Edition Ost. Mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Herausgeber bringen wir als Auszug seine Erinnerungen an die Zeit im Arbeitersport und im Vorbereitungskader für die Olympischen Spiele 1936.
Du bist in Kreuzberg geboren, 1909.
Na, ja. Eigentlich gehörte das damals zu Schöneberg, wo ich geboren wurde. Das war in der Nähe der Potsdamer Straße. Kennst Du die Potsdamer Straße?
Ja.
Parallel zur Potsdamer läuft die Steinmetzstraße. Und die nächste ist die Bülowstraße. Dort bin ich geboren. Die Bülowstraße mündet in die Kulmerstraße, und von dort lief ich in die Pallasstraße, wo ich die Schule besuchte.
Erzähl über deinen Vater und die Mutter.
Vater war Tischlergeselle, stammte aus Niederschlesien, aus der Gegend, wo die Weber streikten. Mutter kam aus Oberschlesien. Vater war evangelisch, Mutter katholisch. Sie hat als Falzerin in einer
Buchbinderei gearbeitet.
Gehörtest du auch einer Kirche an?
Formal ja. Das entschied Vater. Ich wurde in der Luther-Kirche in der Bülowstraße getauft, dabei soll ich mächtig geschrien haben. Ich habe mich also widersetzt, was wohl als Zeichen zu sehen
war.
Vaters Vater war Kutscher bei einem gräflichen Herrn, und auch er kam nicht aus dem Dorf heraus. Die einzige Gelegenheit bot sich dadurch, dass er sich zum preußischen Militär meldete. Er kehrte
nicht mehr nach Schlesien zurück. In Berlin lernte er meine Mutter kennen, die sich ebenfalls aus ihrer Heimat abgesetzt hatte. Vater lebte von 1863 bis 1924. Nach seinem Tode hat Mutter wieder als
Falzerin in Berliner Buchbindereien gearbeitet.
Während des Krieges arbeitete Vater in der Muskauer Straße in einer Tischlerei. Er war dort Vertrauensmann der Gewerkschaft und
Sozialdemokrat. Er hat auch in der Revolution mitgemacht, der Alte.
1918?
Schon vorher ist er aus der SPD ausgetreten und Mitglied der USPD geworden. Später ist er mit der USPD nicht zur SPD zurückgegangen, aber in die KPD ist er auch nicht eingetreten.
Was hat er in der Revolution gemacht?
Das weiß ich nicht. Vater ist dabei gewesen. Mutter hatte Sorgen, weil der Alte mit einer Flinte rumlief. Er war schon 55 Jahre alt und hat da noch mitgemacht.
Hattest du Geschwister?
Ja, ich war der Jüngste. Als ich verspätet kam, war Vater schon Mitte 40. Der älteste Bruder, Richard, wurde 1894 geboren, der andere,
Erwin, 1902. Richard wurde 1914 eingezogen und fiel im Frühjahr 1918 in Frankreich als Feldkanonier. Er hatte einen Volltreffer gekriegt. Weiter als bis zum Gefreiten hat er es in vier Jahren nicht
gebracht. Ich habe noch eine Postkarte von ihm, wo er scheibt: "Meine Lieben, ich hoffe ja, dass der Krieg bald zu Ende sein wird, denn die in Russland haben einen Friedensvertag gemacht. Wir
werden bald nach Hause kommen." Sie haben also in Frankreich die Entwicklung im Osten mitgekriegt und darüber diskutiert. Aber ich kann nicht sagen, ob er politisch organisiert war.
Wie sind deine ersten Erinnerungen?
Typische Proletarier-Verhältnisse herrschten bei uns. Mutter hat immer gesagt: "Du bist im Waschkorb zur Welt gekommen und hast darin geschlafen." Wir hatten eine Berliner Stube, in der die Betten
hinereinander standen. Bescheiden, alles sehr bescheiden. In der Küche stand das Bett von Muttern, und wir Kinder waren in der Stube.
Das sind die ersten Erinerungen. Mutter war nicht Sozialdemokratin, aber politischer als Vater. Wenn der Alte traditionsbewusst am Sonntag vormittag zu Erwin und mir sagte: "Jungs, geht in die
Kirche!", dann erklärte Mutter: "Geht nicht in die Kirche, geht spielen!" So waren die Kompetenzen zu Hause aufgeteilt. Später wurden Vater und Mutter Mitglieder bei den Freidenkern. Beide wurden
nach ihrem Tode auch von den Freidenkern eingeäschert. Meine erste politische Handlung war der Austritt aus der Kirche. Da war ich vierzehn.
Wann spürtest du erstmals etwas von Politik?
Ich bin mit zehn Jahren Mitglied des Arbeiter-Turnvereins "Fichte" geworden. "Fichte 7" saß in der Reichenberger Straße. Mein Bruder Erwin war auch dabei. Ich bin ihm später auch zu den Kommunisten
gefolgt. Von 1919 an war ich ununterbrochen im Arbeiter-Turnverein.
Wie lief das ab im Arbeiter-Turnverein? Wie oft habt ihr euch in der Woche getroffen und trainiert?
In der Regel zweimal, und zwar am Dienstag und am Freitag. Das hieß, von 6 bis 8 Uhr abends turnten die Kinder-Abteilungen, danach waren die Erwachsenen dran. An anderen Tagen nutzten andere Vereine,
auch bürgerliche, die Halle. Später bin ich dann in die Prinzenstraße zu "Fichte 2" gegangen. Dort stand die damals größte Turnhalle Berlins, vierzig Meter lang. Sie wurde während des Krieges
zerstört.
Dort habe ich als Lehrling in der Männer-Abteilung trainiert, obwohl ich eigentlich für das Geräteturnen zu lang war. Wenn es hieß: "Nach der Größe antreten!" war ich immer der rechte Flügelmann. Dann reihte sich alles ein. Ich gab das Kommando. Das führte dazu, dass ich mich daran gewöhnte, vorne zu marschieren.
Schwierig wurde es nur, wenn ein Lied angestimmt werden sollte. Ich habe zwar keine schlechte Stimme, aber ein schlechtes musikalisches
Gehör. Wenn der Lehrer mich in der Schule ärgern und die Klasse aufheitern wollte, dann forderte er: "Neumann, sing ein Lied!" Alle haben "Juchhe!" geschrien, weil der Neumann die Töne nicht traf.
Das hat mich aber nicht berührt. Ich habe so gesungen, wie ich das verstanden habe.
Im Sport war ich angesehen. Bei "Fichte" hatte ich mir in den 20er Jahren einen Namen gemacht. Das werden dir Leute bestätigen, die mich aus jener Zeit kennen. Mit einigen treffe ich mich noch heute.
Sogar aus Hasselby in Schweden bekomme ich Post. Am 5. März 1993 erhielt ich ein Schreiben von Joachim Marcuse. Lies mal. Nach sechs Jahrzehnten hat er sich bei mir gemeldet.
Bemerkenswert finde ich, was Marcuse über euch beide schreibt: "Ich war also 14, 15, als ich dich dort kennen lernte. Du warst damals ein Idol. (...) An 'Ali' habe ich noch oft gedacht; auch manchmal in der schwedischen Presse von dir und deiner Stellung in der DDR gelesen; so wie ich mich noch heute an unsere Wellblechbaracke auf dem Sportplatz, an die Trainingsstunden und an die Waldläufe durch den herbstlichen, dunklen Plänterwald erinnere."
Ja, er lebt in Schweden. Andere ehemalige Sportkameraden wohnten in Berlin-Mitte.
Später wechselte ich zu den Leichtathleten. Ich war auch ein guter Schwimmer.
Habt Ihr damals auch schon Freikörperkultur gekannt?
Ja, das hat es gegeben. Wir suchten dann aber Badestellen auf, wo wir alleine waren.
War das für "Fichte" typisch?
In Nassenheide bei Teschendorf war ein FKK-Gelände. Dort konnte man nackt im Lager laufen. Aber bei uns, bei "Fichte", gingen wir lediglich nackt baden. Aber nur, wenn wir Jungs unter uns waren.
Waren Mädchen dabei, trugen wir immer unsere dreieckige Badehose und die Mädchen ihren Turnanzug. FKK war nicht unser Geschmack. Wir unterschieden uns darin von den Wandervögeln, die wir "Latscher"
nannten.
"Hopp, hopp, hopp, Latscher hat 'nen Eierkopp", riefen wir manchmal aus Jux. Wir waren Sportler und keine Latscher. Natürlich sind auch
wir an fast jedem Wochenende gewandert. Und als wir später Fahrräder hatten, fuhren wir damit raus. Ich war an jedem Wochenende irgendwo unterwegs.
Die Latscher waren die Anhänger der Wandervogel-Bewegung?
Das waren die, die nur wanderten. Aber darunter waren auch gute Genossen. Später waren sie im Zentralverein "Fichte". Ich ging dann nach "Fichte Südost". Wir waren der leistungsmäßig stärkste Verein
des Arbeitersports. Ich habe sogar beachtliche Rekorde aufgestellt, weshalb sich auch der bürgerliche Sport für mich zu interessieren begann.
Die Bürgerlichen ließen mir vor der Nazizeit die Bude ein, um mich abzuwerben. Sie sagten mir eine feste Arbeit zu, falls ich bereit sei,
in ihren Verein zu wechseln. Ich bin darauf nicht eingegangen, ich blieb Arbeitersportler. Erst nach 1933 schloss ich mich bürgerlichen Sportorganisationen an. Wir Arbeitersportler gingen organisiert
in diese Vereine, um von dort aus antifaschistisch zu arbeiten.
Hattest du auch Kontakt zu Werner Seelenbinder?
Ja. Alle haben ihn unterschätzt, auch ich, wenn ich mit ihm rang. Solange ich ihn in der Luft hatte, kam ich mit ihm klar. Da konnte er
nichts machen. Sobald er aber festen Boden unter den Füßen bekam, war er sofort überlegen. Ich ärgerte mich immer sehr darüber. Schließlich war er wesentlich kleiner als ich.
Einmal, das war 1927, glaube ich, waren wir in der Reichenberger Straße zu einem Gast-Turnen. Vor der Turnhalle gab es einen Auflauf. Seelenbinder hatte irgendwelchen Zoff mit den Nazis, die ihn
provoziert hatten. Polizei kam hinzu. Werner hatte einigen Nazis eine übergezogen, die bluteten. Es bestand die Gefahr, dass ihn die Polizei mitnahm. Wir von "Fichte" kamen mit einem Pulk von 15 bis
18 Sportlern dazu und drückten Werner beiseite. Er haute ab, und wir deckten den Rückzug. Ehe sich die Polizei versah, war er ihnen mit unserer Hilfe entkommen.
Ich traf Seelenbunder oft auf Leichtathletik-Sportfesten, er startete als Kugelstoßer. Im Kugelstoßen war ich viel besser als er. Zuletzt sahen wir uns im Zuchhaus Brandenburg. Dort wurde er am 24.
Oktober 1944 hingerichtet.
Wie habt ihr euch gegen den Vormarsch der NSDAP gewehrt?
Wir schoben nachts Wache an der Geschäftsstelle. Wenn die Stahlhelmer anmarschiert kamen, haben sie den Arsch vollgekriegt. Das war ganz logisch. Wer Berlin erobern will, der muss den Rückzug
antreten, lautete unsere Losung. Unser Schwerpunkt war die Wrangelstraße, Görlitzer Straße bis runter zum Lausitzer Platz. Du hast dort vor 1933 keinen Nazi in Uniform gesehen, das hätte keiner
riskiert.
Wir hatten eine einfach Methode, die wir am Kottbusser Damm ausprobiert hatten. Also, da kommt einer an mit braunem Hemd, brauner Hose, Koppel. Einer von uns spricht ihn an. Sodann kommen von rechts und links welche mit Taschenmessern, schneiden ihm das Koppel durch, reißen blitzschnell die Hosen runter und lassen ihn in Unterhosen stehen.
So habt ihr die Nazis aus Kreuzberg verscheucht?
Das hat hundertprozentig geklappt. Bei uns riskierte bald keiner mehr, seine Hosen zu verlieren. In unserem Kiez war vor 1933 die Ablehnung der Nazis ziemlich groß. Das änderte sich erst nach 1933.
Dann haben sie versucht, unsere Gegend zu erobern.
Wir hatten in der Sorauer/Ecke Görlitzer Straße ein KPD-Parteilokal. Dort fanden immer die Wohngruppen-Versammlungen statt. Da ich erwerbslos war, ging ich dorthin.
Die Nazis hatten ein Lokal hinter dem Görlitzer Bahnhof in der Wiener Straße, den "Wiener Garten". Einmal überfielen sie unser Lokal. Steine flogen, Scheiben klirrten, und als wir nach draußen stürmten, wurde geschossen. Ein Genosse wurde getroffen. Er starb. Seit diesem Überfall passten wir höllisch auf. Fortan stand draußen immer ein versteckter Posten.
Es gab nach dem 1. Mai 1929 das böse Wort von den "kleinen Zörgiebels" Wie siehst Du das?
Das ist eine komplizierte Sache. Sieh mal, dieser Angriff war ja keine Sache der "kleinen Zörgiebels". Das war die schlechte Politik der
sozialdemokratischen Führung gegen die Kommunisten. Das kam von oben und setzte sich fort bis unten.
Ich nehme mal vorweg, damit ich das später nicht vergesse, was auch zu diesem Verhältnis zwischen KPD und SPD gehört: Wir [im kommunistischen Verband organisierten] Arbeitersportler wurden aus den
städtischen Turnhallen von sozialdemokratisch geführten Stadtverwaltungen rausgeschmissen! Die Turnhallen kosteten uns nicht viel, vielleicht die Stunde 40 Pfennig. Dann haben sie uns die Benutzung
der Turnhallen untersagt. Ein Turnverein ohne Turnhalle muss sich erst neu organisieren. Da haben wir leer stehende Fabrikräume gemeietet. Wir sind dadurch sogar gewachsen, sind viel särker geworden,
als wir vorher waren.
Mein Bruder Erwin war roter Betriebsrat in der Konsum-Genossenschaft in der Rittergutstraße, jetzt Orloppstraße, da, wo der Konsum jetzt noch ist. Er wurde als Autoschlosser rausgeschmissen. Der
Konsum musste ihm aufgrund einer arbeitsgerichtlichen Entscheidung eine Entschädigung von 2000 Mark zahlen. Dafür kaufte er sich ein Motorrad, eine Harley mit Beiwagen. Die nahmen ihm die Nazis 1933
weg.
Sie haben die roten Betriebsräte rausgeschmissen. Die Linie der Spaltung herrschte ja generell. Die Zörgiebels – das war Unterdrückung und das Verbot der "Roten Fahne". Das Zentralorgan
erschien immer wieder mit weißen Stellen. Die Beiträge hatte die Zensur vor dem Druck entfernt.
Du hattest überall die Linie der verschärften Verfolgung durch die SPD.
Warst du am 1. Mai 1929 dabei?
Wir trafen uns auf einem Platz und saßen auf einer Bank. Am Revers trugen wir unsere "Fichte"-Abzeichen. Es kamen immer mehr Menschen.
Die Demonstration sollte zur Leipziger Straße gehen. Auf einmal rollten Schupos an. Einer kam auf uns zu und rief: "Ihr denkt wohl, weil Ihr von 'Fichte' seid, könnt ihr hier sitzen bleiben?" und
zückte den Knüppel. Wir blieben. Neben mir saß Willi, der war nicht ganz so lang wie ich, aber auch sehr kräftig. Der Polizist wiederholte: "Aufstehen, aufstehen!" Wir erhoben uns langsam. "Wer bist
du denn, hast du dich verkauft? Warum lässt du dich als Schläger gegen Arbeiter einsetzen?"
Unsere Taktik ging immer so: vom Haufen weglocken und, wenn sie frech werden, kriegen sie die Hucke voll. Als er meinem Nebenmann mit seinem Prügel aufs Kreuz schlug, drehte der sich um und
schenkte ihm eine ein. Dann rannten wir ein Stück, zwanzig Meter vielleicht, und provozierten ihn: "Was ist denn, wo bleibst du denn?" Wir wollten ihn weglocken, damit wir ihm die Jacke vollhauen
konnten.
Eine Stunde später ging die Knallerei los. Ohne Warnung wurde von hinten in die wartende Menge reingeballert. Die Behauptung von Zörgiuebel, wir wollten einen Aufstand machen, war doch eine Idiotie
in Größenordnung. War überhaupt nichts vorbereitet. Keine Absicht bestand. Wir wollten demonstrieren. An den wichtigsten Ecken standen mobile Kommandos mit Autos. Früher kamen sie noch mit Pferden
und haben von oben geprügelt. Dann hatten wir eine Taktik ausgemacht, wie man am besten mit Reitern umgeht.
Was war das für eine Taktik?
Dafür braucht man zwei, drei Leute. Einer ging an das Hinterbein des Pferdes, einer ans Vorderbein, der dritte Mann zog das Bein des
Polizisten aus dem Steigbügel, dann hoben wir an und das Pferd kippte mit dem Reiter zur Seite. Schon war der Polizist aus dem Sattel. War eine einfache Sache.
Aber ganz schön brutal.
Sie waren es doch auch uns gegenüber.
Aber Mut gehört dazu. Das Pferd konnte ja ausschlagen.
Nicht nach der Seite. Du musst bloß den Mut haben, schnell zuzufassen, und die nötige Kraft. Und wenn es auf zwei Beinen steht, kann es nicht mehr ausschlagen.
Deshalb haben sie auf Pferde verzichtet?
Sie haben sie jedenfalls nicht mehr eingesetzt und stiegen auf Autos um. Die waren offen und hatten so etwas wie Fallreeps. Die Polizisten saßen in der Mitte des Wagens. Vorn der Führer, die
Mannschaft in der Mitte. Sie stoppten, ließen die Fallreeps rechts und links und nach hinten runterklappen, dann sprangen sie auch vom Wagen, bevor der Wagen stand. Das müssen sie trainiert
haben.
Am 1. Mai 1929 putzten sie Menschen selbst vom Balkon, die gar nichts gemacht hatten. Frauen wurden totgeschossen. Viele waren von hinten getroffen, wie eine von Carl von Ossietzky gebildete
Kommission befand. Ossietzky hat darüber auch in der "Weltbühne" geschrieben.
Vielleicht können wir noch einmal auf den Sport beim Übergang zur NS-Herrschaft zurück kommen.
Wir haben solche Vereine schon vor 1933 gegründet und im bürgerlichen Verband angemeldet. Wir haben formal auch Beiträge
bezahlt.
Kennst du auch noch deren Namen?
"Grün-Weiß" war so ein Verein, mit dem wir als gemeinnützig anerkannt wurden. Wir erhielten Fahrpreis-Ermäßigungen bei der Reichsbahn um die 50 Prozent.
Warst du Funktionär bei "Grün-Weiß"?
Ich hatte immer Funktionen im Arbeitersport, weil ich mich für das Sporttechnische interessierte und die Trainingsfragen, auch Kontakte zu den tatsächlichen bürgerlichen Verbänden hielt.
Du hast niemals als Tischler gearbeitet, sondern immer nur im Sport?
Natürlich war ich als Tischler tätig – wenn ich Arbeit hatte. Aber ich war zweieinhalb Jahre erwerbslos. Ich habe meine Sportfunktion ehrenamtlich ausgeübt. Als gewählter Landestechniker hingegen, das war 1932, erhielt
ich ein paar Pfennige. Um genau zu sein fünf Reichsmark pro Monat.
Du erwähntest vorhin, dass man euch aus den Sporthallen warf. Was habt ihr da gemacht?
Na, draußen trainiert. Wir absolvierten zuerst unsere Läufe abends im Plänterwald. Dann verlegten wir unsere Läufe auf den Sonnabend nachmittag und Sonntag vormittag. Schließlich mieteten wir einen großen Fabrikraum in der Wrangelstraße. Der hat im Monat 200 Mark gekostet. Das Geld haben wir durch Sammlungen und andere Aktivitäten aufgebracht. Tagsüber haben dort Erwerbslose Schach oder Tischtennis gespielt. Den ganzen Tag waren unsere Räume ausgelastet. Wegen der Not fanden wir den Weg zu den Massen.
Hast du Thälmann persönlich kennen gelernt?
Ich hatte ihn auf Kundgebungen erlebt. Und in der Teltower Straße habe ich ihn bei einer Parteiaktiv-Tagung gesehen. Ich hörte, dass er gut sprechen konnte. Am besten war er, wenn er sein Konzept
beiseite legte. Und wenn er in Rage geriet, fiel er in Hamburger Platt.
EllyWinter, die Tochter von Wiljhelm Pieck, erzählte einmal, dass in der Kommunistischen Internationale ab einem bestimmten Zeitpunkt die Linie verfolgt wurde, Arbeiter an die Spitze der Parteien zu
wählen. Deshalb wurde Thälmann aus Hamburg nach Berlin geholt. Berlin war damals eine Weltstadt, Hamburg keineswegs. Und dann noch so ein Werftarbeiter. Die Aufgabe von Pieck sei es darum gewesen,
aus dem Hintergrund Thälmann auf die Verhältnisse in der Metropole Berin einzustellen.
Wilhelm Florin kam aus dem Ruhrgebiet nach Berlin. Walter Ulbrichtr war ein Tischler aus Leipzig ... Thälmann kam an, weil er nicht theoretisierte, er war nicht abstrakt, sondern konkret. Man hat ihm
das Hamburger Platt nicht übel genommen.
Ab 1933 begann deine Aktivität in einem bürgerlichen Verein.
Das war "Adler 05" in Kreuzberg. Der Vorsitzende war ein Nazi. Keil hieß der. Er wusste, woher wir kamen, sagte aber nichts. Wir waren
seinen Sportlern haushoch überlegen. Und ich gehörte bereits zur Olympia-Kernmannschaft für 1936. Im Herbst 1933 nahmen wir an den Brandenburgischen Meisterschaften teil. In der Nacht vor dem
Sportfest habe ich mit drei Burschen das ganze Stadion mit Rot-Sport-Losungen vollgemalt, mit der letzten S-Bahn fuhren wir nach Hause. Und morgens um 9 Uhr bin ich zum Wettkampf angetreten. Ich
wurde zweiter, weiß aber nicht mehr die Disziplin. Wir Arbeitersportler hatten uns vorher verständigt: Wir lassen die Knochen unten, kein "Deutscher Gruß".
Wegen eines Streits, oder sagen wir: wegen einer Mutprobe mit meiner Freundin Toni, hatte ich mir kurz zuvor eine Glatze scheren lassen. Ich hatte eine lange, lockige, nach hinten gekämmte Tolle wie
damals üblich. Ich fiel nun nicht mehr nur wegen meiner Größe auf, sondern auch durch den kahlen Kopf. Wir marschierten zur Eröffnung ein, vielleicht 150 Sportler. Bei den Zehnkämpfern war ich, wie
gewohnt, als Längster der rechte Flügelmann. Fünf Meter vorm Mikrofon kam ich mit dem Block zu stehen.
Erst redete einer von den Sportlern, dann einer von der Sportführung. Sie endeten mit "Sieg Heil!". Mich kratzte das nicht. Ich stand mit
den Händen auf dem Rücken und breitbeinig wie ein Sportler. Dann trat ein Nazi in Zivil, aber mit Parteiabzeichen ans Mikrofon, nach ihm einer in Uniform. Auch sie ließen Hitler am Ende hochleben.
Ich gucke nach rechts, ich schaue nach links: Alle Knochen gingen hoch. "Sieg Heil!"
Ich behielt die Hände auf dem Rücken.
Ich bemerkte, wie sich auf der Tribüne Unruhe breit machte. Ich schere aus. Unten erwartete mich meine Kleine mit dem Sommermantel Ich warf ihn über und ging nach unten in die Garderobe, wo meine
Sachen waren. Da wartete bereits die SA auf mich. Da kam ich nicht ran. Auf der Tribüne vermuteten sie mich nicht. Also wartete ich dort. Später holte mein Kumpel die Sachen. Ich zog mich in einer
Ecke der Tribüne um. Dann sind wir weg.
Später wurde ich als Olympiakader dazu befragt. Ein NS-Sportführer riet mir: "Treiben Sie nur Sport, kümmern Sie sich nur um Sport! Bei Ihren Talenten werden Sie bei der Olympiade ganz bestimmt viel
erreichen."
Die hatten wirklich keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatten. 1934 bekam ich einen Pass, der fünf Jahre gültig war. Mit dem bin ich noch im selben Jahr über Dänemark in die Sowjetuniuon
emigriert.
***
Quelle: Siegfried Prokop (Herausgeber), Alfred Neumann (Autor) "Ulbrichts Favorit: Auskünfte von Alfred Neumann", Edition Ost 2009, S. 140 bis 153
Wir bedanken uns bei Siegfried Prokop und Edition Ost für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe!
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