von Hans-Wilhelm Ruland
2018 wurde in vielen Feierstunden des endgültigen Endes des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet gedacht. Oft sprach man dabei über gelebte
Bergmannskultur und eine vom Ruhrgebiet mit bis zu 600.000 Bergleuten maßgeblich prägte Wirtschaftsära. Wie diese hart arbeitenden Menschen ihre knapp bemessene Freizeit verbrachten wurde
in den Berichten fast nie erwähnt.
Unter dem Dach der Arbeitersport-Bewegung gründeten im Wilhelminischen Kaiserreich u.a. Bergleute und Stahlarbeiter, aber auch werktätige Frauen des Ruhrgebietes Turn- und Wandervereine. Vor dem
Ersten Weltkrieg war Wettkampfsport im Arbeiter-Turnerbund verpönt. Der Verband lehnte satzungsgemäß "sportliche Sensationen, Rekordjagd, Starkult, Geschäftemacherei und nationalen Rummel"
ab.
Und noch 1928 schrieb der “Volkssport”, die ATSB-Zeitschrift für Rheinland-Westfalen: “Es ist vollkommen gleichgültig, ob man in Düsseldorf, Bochum oder Köln durch irgendein Tor irgendwelche Meisterschaft erringt. Wichtig ist, wie man spielt, wie man sich benimmt, wie man Arbeitersport zeigt und wie man den notwendigen werbenden Eindruck auf dem Sportplatz erzielt.”
In seiner Blütezeit hatte der ATSB in der Sparte “Fußball” reichsweit an die 140.000 Aktive in über 8.000 Mannschaften. Im Ruhrgebiet dürften nach unterschiedlichen Angaben etwa 20 Prozent der Fußballer im Arbeitersport organisiert gewesen sein. Der weitaus größere Teil spielte in den Reihen des “bürgerlichen” Deutschen Fußball-Bundes. Daneben gab es noch die katholische Deutschen Jugendkraft (DJK), vom ATSB-Wochenblatt “Freie Sport-Woche” als “schwarze Gilde” bezeichnet, sowie den Betriebssport mit Werksvereinen wie bei Thyssen, Krupp, Gussstahlwerke Gelsenkirchen oder Gerresheimer Glas.
Organisatorisch zählten alle Ruhrgebiets-Vereine des ATSB zum 6. Kreis (Rheinland-Westfalen), der sich in 14 Bezirke unterteilte. Der ATSB-Regionalverband war die “Freie Westdeutsche Spielvereinigung” mit Sitz in Köln. Alle Spiele begannen und endeten mit dem gemeinsamen Ruf “Frei Heil!”
Im 12. Bezirk (Bochum/Herne) existierten 1925/26 23 ATSB-Fußballvereine bzw -Abteilungen mit 846 volljährigen Mitgliedern, darunter sogar drei weiblichen! Verteilt man diese Zahl auf die der Vereine, so hatte ein jeder durchschnittlich etwa erwachsene 36 Mitglieder; eine wahrlich überschaubare Vereinswelt.
Von diesen 23 Fußball-Vereinen bzw. -Abteilungen war der heute längst vergessene Freie Spielverein Laer (nicht zu verwechseln mit dem noch heute existierenden LFC Laer 06 e.V.!) zeitweilig besonders erfolgreich, denn er schaffte es 1926 unter die besten vier ATSB-Vereinsmannschaften! Mein Vater Hans Ruland (1904-1986) gehörte jener Mannschaft als Stürmer an. Dies war für mich der Anlass, die Geschichte seines Vereins etwas genauer zu betrachten.
Der FSV Laer schlug in der Kreismeisterschaft zuerst Einigkeit Duisburg-Kasslerfeld mit 2:1, dann den SSV Hansa Dortmund mit 2:3 nach 5-minütiger Verlängerung, anscheinend gab es damals in der "Freien Westdeutschen Spielvereinigung" eine "Golden Goal"-Regelung. Im Kreis-Finale gelang den Ost-Bochumern schließlich vor ca. 5000 Zuschauern in der Radrennbahn Barmen ein 4:2 über die Freie Turngemeinde Ohligs! Für den kleinen Vorort-Verein mit gerade mal 17 aktiven Spielern ein herausragender Erfolg!
Und es kam noch besser, denn mit diesem Erfolg hatte sich der FSV Laer für die Nordwestdeutsche Verbandsmeisterschaft qualifiziert. In der Vorrunde drehten die Bochumer auswärts beim TSV 95 Kassel-Bettenhausen einen 1:3-Pausenrückstand noch mit 5 Toren auf 6:4!
Im Finale lauerte dann der SV Weser 08 Bremen. Dieser hatte 1924 als erster deutscher Fußballverein überhaupt die Sowjetunion bereist und dort auch einige Siege errungen. Aufgrund dieser Auslandserfahrung, der noch in die Kaiserzeit zurückreichenden Vereinstradition und einer viel höheren Mitgliederzahl war Weser 08 als haushoher Favorit anzusehen. Dass der FSV Laer gegen diese Bremer dennoch mit 2:1 die Verbandsmeisterschaft gewann war vielleicht die größte Überraschung der damaligen ATSB-Saison!
Unser wackerer Ost-Bochumer Vorort-Verein zog damit in die
ATSB-Endrunde ein. Der nächste Gegner, der Dresdner SV 1910, stellte damals das Nonplusultra des deutschen Arbeiterfußballs dar. Seine äußerst spielstarke I. Mannschaft hatte bereits 1924 und 1925
die ATSB-Bundesmeisterschaft gewonnen und galt nach wie vor als nahezu unschlagbar.
Laut Anzeige war für das Vorrundenspiel das Stadion Bochum vorgesehen. Das Foto vom Spiel zeigt allerdings einen einfachen Platz als Kulisse. Wie auch immer, in den ersten 45 Minuten konnte der Gastgeber dem Dresdner SV noch Paroli bieten und
ging nach zwischenzeitlichem Rückstand mit einem 3:3 in die Kabine. In der zweiten Halbzeit spielten die Sachsen dann ihre Überlegenheit aus, gewannen letztendlich verdient mit 5:3 und zogen so zum
dritten Mal in Folge ins ATSB-Endspiel ein.
Der FSV Laer war ehrenvoll ausgeschieden, sein sagenhafter Höhenflug damit beendet. Dieser gerade erst aufgegangene Stern verschwand wieder vom überregionalen Firmament. Aber in dieser einen großen Saison hatte der Freie Spielverein Laer anderen "Zwergvereinen" vorgemacht, dass man es im Arbeiterfußball auch mit nur 17 Spielern weit bringen konnte.
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Meisterschaft des 6. Kreises (Rheinland-Westfalen) 1926
Nordwestdeutsche Verbandsmeisterschaft 1926
ATSB-Bundesmeisterschaft 1926
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