Am Ende der Massenvorführung, einer Entwicklungsgeschichte von Proletariat und Arbeiterbewegung von 4000 Mitwirkenden im Wiener Praterstadion, krachte der „Kapitalistenkopf“ bzw. „Götze Kapital“ (vermutlich aus Pappmaché) dramatisch in sich zusammen. Viermal gab es diese Aufführung, insgesamt 260.000 Menschen sollen sie miterlebt haben. Und gesungen wurde abschließend von Aktivisten und Publikum die „Internationale“.
Ein eigenes Kampflied hätten die Wiener Gastgeber dabei auch anstimmen können: „Die Arbeiter von Wien“, entstanden 1927 nach der sogenannten Julirevolte (siehe unten) und in den verschiedenen Fassungen mit ca. 2 Millionen Aufrufen auf Youtube anscheinend noch immer einigermaßen populär. Die österreichische Bundeshauptstadt hat diese Epoche ihrer Geschichte nicht vergessen. Weshalb dieses Jahr und noch bis in den Januar 2020 das Jubiläum „100 Jahre Rotes Wien“ gefeiert wird.
Die zentrale Ausstellung dazu ist noch bis 19. Januar 2020 im Wien Museum MUSA zu sehen. Und erfreulicherweise gibt es im Karl-Marx-Hof von 1930, einem der herausragenden, heute noch beeindruckenden Wohnprojekte des „Roten Wien“ für 5500 (!) Bewohner, nun auch eine Dauerausstellung im früheren „Waschsalon Nr. 2“. Bereits 1981 wurde in der Straßenbahn-Remise von Wien-Meidling die Ausstellung „Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918-1934“ veranstaltet.
Die damalige Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs hatte nach dem Ende der Monarchie und der Ausrufung der Republik bei den Wiener Gemeinderats-Wahlen 1919 die absolute Mehrheit erreicht. Und ging in der Sozial- und Wohnungsbaupolitik in eine Offensive, die international Beachtung fand. Resultate des Wohnbauprogramms waren der erwähnte Karl-Marx-Hof in Döbling, zahlreiche weitere Gemeindebauten wie der Goethehof und der Karl-Seitz-Hof, das Amalienbad, das Krematorium beim Zentralfriedhof u. v. a. m.
Fortschrittlich waren die Sozialmaßnahmen: Mittagessen für Schulkinder (finanziert durch eine Nachtclub-Steuer), Säuglingspakete für Neugeborene (diese bezahlten die Wetter von der Pferderennbahn mit einem Teil ihres Einsatzes), Luxuswohnungen wurden gesondert besteuert. Dazu kamen reichlich Bildungsinitiativen wie Arbeiterbüchereien. Im Katalog von 1981 hieß es dazu: „Wien sollte Österreich und der Welt zeigen, was Sozialismus zu leisten imstande ist.“
Ein weiteres bauliches Groß-Projekt war das Praterstadion bzw. Wiener Stadion, bis heute das Nationalstadion von Österreich, seit 1992 nach dem früheren Fußball-Nationalspieler und Erfolgstrainer Ernst Happel benannt. Entworfen hatte es der aus Schramberg im Schwarzwald stammende deutsche Architekt Otto Ernst Schweizer (1890-1965), der sich für diesen Auftrag mit dem von ihm projektierten Städtischen Stadion Nürnberg empfohlen hatte. Dort fand 1929 das 2. Arbeiter- Turn- und Sportfest statt.
Das Praterstadion sollte der zentrale Ort der II. Arbeiter-Olympiade werden, welche die Sozialistische Arbeitersport-Internationale bei ihrem Kongress 1927 nach Wien vergeben hatte. Die Gaststadt kam ihrer Verantwortung nach und realisierte 1931 „eine Großveranstaltung, die ihresgleichen sucht“ und „das letzte Großereignis der sozialistischen Internationale Europas“ blieb.2 Weniger bekannt ist, dass im Februar 1931 in Mürzzuschlag in der Steiermark und auf dem Semmering auch die II. Winter-Olympiade der Arbeiter stattfand.
Inmitten der Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit übte das "Rote Wien“ auch auf die sozialdemokratischen Arbeitersportler Deutschlands eine enorme Anziehungskraft aus. „Auf nach Wien!“ lautete die Parole – manche radelten dorthin, andere nutzten die Sonderzüge. An die Unterbringung in Hotels oder Pensionen war wegen fehlender Geldmittel selbstverständlich nicht zu denken.
So richteten die Wiener Massenunterkünfte in den erwähnten Gemeindebauten und in Schulen ein. Woraus auch Freundschaften enstanden. Zumindest für kurze Zeit, denn in Deutschland übernahm der Faschismus 1933 die Macht, Österreich wurde im selben Jahr eine Diktatur. Noch 1931 überreichten die Arbeitersportler aus Wien-Floridshof bei einer Großkundgebung im Hamburger Gewerkschaftshaus dem dortigen Arbeitersport-Kartell Groß-Hamburg die heute verschollene „Rote Sturmfahne“.
77.000 bis 80.000 Arbeitersportler aus 23 Ländern nahmen in Wien teil, davon 30.000 aus Deutschland. 25.000 insgesamt waren aktiv im Einsatz. Österreich stellte damals mit 713.834 Mitgliedern die größte sozialdemokratische Partei Europas, davon rund 400.000 in Wien, wo die Zustimmung in einigen Bezirken bei über 90 Prozent lag.
Während sich der ATSB in Deutschland mit der kommunistischen „Rotsport“-Bewegung auseinandersetzen musste, spielte in Österreich die Kommunistische Partei mit etwa 4000 Mitgliedern, ebenso wie die kommunistische Sportbewegung, keine große Rolle.
Dass es erst 1927 zu einem ersten Länderspiel zwischen Österreich und der Bundesauswahl des ATSB kam, lag an der speziellen Entwicklung. Zwar bildeten Österreichs Arbeitersportler, Arbeiterradfahrer und Naturfreunde seit 1919 den „Verband der Arbeiter- und Soldatensport-Vereine" (VAS), der sich 1924 in "Arbeiterbund für Sport und Körperkultur in Österreich" (ASKÖ) umbenannte.
Die sozialdemokratischen Fußballer aber blieben bis 1926 im überparteilichen Österreichischen Fußball-Verband (ÖFV), gemeinsam mit den Profi-Vereinen! Als vom ÖFV kein Team zur I. Arbeiter-Olympiade 1925 nach Frankfurt am Main geschickt wurde, kam es zum Bruch: Am 7. März 1926 bildete sich die "Freie Vereinigung der Amateur-Fußballvereine Österreichs" (VAFÖ), die den ÖFV verließ und dem ASKÖ beitrat.
Die VAFÖ zählte 400 Vereine mit 10.000 Mitgliedern, litt allerdings in der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre unter dem Weggang guter Fußballer zu Profiklubs. So stammten angeblich neun Spieler des legendären "Wunderteams" aus dem Arbeiterfußball.
Dennoch darf Österreich als spielstärkste Mannschaft des sozialdemokratischen Arbeiterfußballs betrachtet werden. Die Länderspiel-Bilanz gegen die ATSB-Auswahl belief sich auf 9 Siege, 3 Remis und 3 Niederlagen. Mit 3:2 gegen Deutschland wurde Österreich vor 65.000 im Praterstadion auch Arbeiterolympia-Sieger 1931.
In diesem Wettbewerb trat die ATSB-Bundesauswahl zuerst auf dem Sportplatz des Zentralvereins der kaufmännischen Angestellten (8:1 gegen Dänemark, 2000 Zuschauer), danach dreimal im Praterstadion an (9:0 gegen Ungarn vor 25.000, 4:1 gegen Polen vor 65.000 sowie im erwähnten Endspiel).
Andere Spielstätten deutscher Bundesauswahl-Länderspiele in Wien waren 1927 die Hohe Warte, damals das größte Stadion Kontinentaleuropas mit einem Rekordbesuch von mehr als 80.000 (sie befindet sich unweit vom Karl-Marx-Hof), 1929 der Rapid-Platz in Hütteldorf (Abriss 1981), 1930 der Karl-Volkert-Platz des SK Red Star Wien im Bezirk Ottakring (dort befindet sich heute eine Tiefgarage) sowie der Platz des SC RAG Wien-Floridsdorf.
Die erwähnte österreichisch-deutsche Begegnung am 1. November 1930 auf dem Karl-Volkert-Platz in Rudolfsheim-Fünfhaus verdient besondere Erwähnung, entstand dort doch bei der sozialdemokratischen Wahlkundgebung ein heute noch weit verbreitetes Foto. Arbeiterfußballer präsentierten den 10.000 Zuschauern ein Transparent mit der Aufschrift: „Nie schiesst der Fascismus im roten Wien ein Goal! Dafür bürgen Arbeiterfussballer.“
Erstmals veröffentlichte die sozialdemokratische Illustrierte „Der Kuckuck“ am 16. November 1930 die Aufnahme, die später fälschlich einem Aufmarsch bei der II. Arbeiter-Olympiade zugeschrieben wurde.
Ein Novum hinsichtlich der österreichischen Arbeiterfußball-Geschichte gilt es an dieser Stelle festzuhalten. 1927 fanden nämlich die äußerst attraktiven Länderspiele gegen Russland nicht in Österreich, sondern in Deutschland statt. Und zwar am Mittwoch, 27. Juli in Dresden (3:1 für Österreich, 4135 Zuschauer) und am Freitag, 29. Juli (6:1 für Russland, 8538 Zuschauer) in Leipzig.
Der Grund für diese Auswärtsspiele war der, dass Demonstranten am 15. Juli den Justizpalast in Wien gestürmt und in Brand gesteckt hatten. Anlass dafür war der „Notwehr“-Freispruch für rechtsradikale Mitglieder der Frontkämpfer-Vereinigung Deutsch-Österreichs, die in dem kleinen Ort Schattendorf im Burgenland eine sozialdemokratische Versammlung angegriffen und dabei einen Kriegs-Invaliden und ein sechsjähriges Kind getötet hatten.
Die Einstellung des gesamten Straßenbahnverkehrs durch die städtischen E-Werke bildete den Auftakt zu den Unruhen. Beim Justizpalast erschoss die Polizei 89 Demonstranten. Vier Sicherheitsbeamte und ein Kriminalbeamter kamen ums Leben. Die Zahl der Verletzten wurde mit 1500 angegeben. Der christsoziale Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel sprach von einer „Julirevolte“ und davon, dass Milde nicht angebracht sei. Dies trug ihm bei seinen Gegnern den Beinamen „Blutprälat“ ein. Die Ereignisse von 1927 werden auch als Ende der Demokratie in Österreich und Weg in den Bürgerkrieg charakterisiert.
Das oben erwähnte Transparent vom Karl-Volkert-Platz konnte die politische Entwicklung nicht aufhalten. 1933 putschte der christsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, um einen „Ständestaat“ zu errichten, der auch als Austro- bzw. Klerikalfaschismus bezeichnet wird. Der Republikanische Schutzbund, als paramilitärische Organisation der Sozialdemokraten das Gegenstück zur antidemokratischen und antisozialistischen Heimwehr am rechten Rand der Christsozialen, war bereits am 31. März 1933 verboten worden.
Als bei einer geplanten Durchsuchung des sozialdemokratischen Parteiheims in Linz die Februarkämpfe vor allem auch in der sozialistischen Hochburg Wien begannen, war die Opposition hoffnungslos unterlegen. Der rechte Flügel der SDAP hatte dabei „bis zuletzt beinahe unter Selbstaufgabe der eigenen Prinzipien“1 die Verständigung mit der Dollfuß-Regierung gesucht.
In jenen Februartagen 1934 setzte die Regierung u. a. gegen den Karl-Marx-Hof Artillerie ein, auch ließ man den Goethehof in Kaisermühlen von einem Flugzeug aus bombardieren. Ein Generalstreik brach rasch zusammen. Die Zahl der Todesopfer der Februarkämpfe belief sich auf 1500 bis 2000. 5000 Menschen wurden verwundet.
Die Regierung verhängte das Standrecht, acht Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes wurden erhängt, die Sozialdemokratische Arbeiter-Partei aufgelöst, ebenso der Gemeinderat der Bundeshauptstadt Wien und der Wiener Landtag. Auch der österreichische Arbeitersport wurde verboten. Bundeskanzler und Diktator Engelbert Dollfuß wurde beim gescheiterten Juliputsch 1934 von österreichischen Nationalsozialisten im Bundeskanzleramt angeschossen, woran er verblutete.
Nach den Februarkämpfen existierte der VAFÖ formal noch bis 1936, jedoch wurden seine Vereine zum Übertritt ins bürgerliche Lager gezwungen, teils unter neuem Namen. Die erste Europameisterschaft im Arbeiterfußball wurde nie beendet; Österreich stand nach sechs Spielen auf Platz 1 der Mitteleuropa-Gruppe.
Auch wurde die VAFÖ-Meisterschaft Wien am 11. Februar 1934 abgebrochen. Der letzte Tabellenstand lautete: 1. SC Helfort 1912, 2. SC Phönix Schwechat, 3. SK Red Star Wien, 4. SpC Rudolfshügel, 5. SC St. Veit Gaswerk VIII, 6. Neukettenhof, 7. Zentralverein der kaufmännischen Angestellten, 8. SV E-Werke, 9. Floridsdorfer SC, 10. SV Feuerwehr, 11. SC Nord Wien, 12. Ostbahn XI
Eine Reihe dieser Vereine existiert noch, wenn auch nach Fusionen unter anderen Namen: SC Team Wiener Linien (Gaswerk St. Veit und SV Straßenbahn Wien), SC Red Star Penzing, SPC Helfort 15, FS Elektra etc. Die Arbeitsgemeinschaft für Sport und Körperkultur in Österreich (ASKÖ) besteht wieder und gilt heute als befreundete Organisation der SPÖ. Bei den letzten Gemeinderatswahlen 2015 in Wien erreichte die SPÖ 39,59 %, gefolgt von der FPÖ mit 30,79 %.
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Werner Skrentny, Hamburg
1 Wien Geschichte Wiki zum 14. Februar 1934
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