Die ATSB-Fußballregeln von 1920

 

Als das Regelheft der ATSB-Fußballsparte im März 1920 vergriffen war, sagte sich der ATSB-Fußballausschuss vor dem Nachdrucken von der bisher kritiklosen Übernahme international gültiger FIFA-Regeln los und wagten einige kleine Änderungen. Diese traten mit erstmaliger Veröffentlichung am 31. März 1920 in der "Freien Sport-Woche" für alle ATSB-Vereine in Kraft. Wir gehen diese Regeln hier mal in ihrem Wortlaut durch und vergleichen sie mit den derzeit gültigen von DFB, FIFA und UEFA:

 

1. Für Anstoß, Abstoß Freistoß und Strafstoß ist die lächerliche Bestimmung entfernt, wie weit der Ball zu stoßen ist. Es ist für das Spiel ganz gleichgültig, ob er 10 oder 70 Zentimeter weit gestoßen wird und führte dies nur zu unnützem Aufenthalt und kleinlichen Schikanen.

Eine derartige Bestimmung existiert auch im heutigen FIFA-Fußball nicht mehr.

 

2. Eckball darf ein direktes Tor erzielen. Da der Ausstoß des Balles oft das einzige Mittel zur Verhütung eines todsicheren Tores ist, ist die Verschärfung des Eckstoßes nur gerechtfertigt, zudem auch eine internationale Forderung, die bald allgemein eingeführt werden dürfte.

Seit 1924 und damit 58 Jahre nach offizieller Einführung des Eckstoßes erlaubte auch die FIFA dessen direkte Verwandlung.

 

3. Besserer Schutz des Torwartes durch Verbot des Beinangriffes auf den den Ball haltenden oder auf ihm liegenden oder sitzenden Torwart oder auch anderer Spieler.

Veranlasst durch mehrere schwere Torwart-Unglücke im bürgerlichen Fußball1) verstärkte der ATSB später im Jahr 1920 noch einmal den Schutz des letzten Mannes. Heutzutage ist auch nach FIFA-Regeln der Torwart geschützt, sobald er den Ball berührt.

 

 

4. Schutz gegen absichtliches Spielverschleppen durch langes Ballhalten oder auf ihm Draufliegen. Es ist dies eine notwendige Ergänzung zu 3., sonst könte es Torwarten oder anderen Spielern einfallen, eine volle Stunde auf ihm draufzuliegen, wenn sie durch Zufall den sonst unmöglichen Sieg errungen haben.

Diese Regeländerung lässt den Schluss zu, dass der ATSB eher als die FIFA Zeitspiel stärker ahndete.

 

5. Wechsel des Torwarts wurde in die fest bestimmte Form gebracht, dass mit dem Augenblick, da der Schiedsrichter die Ummeldung bestätigt, die Rechte des alten auf den neuen Torwart übergehen, ganz gleich, wo sich beide befinden. Der neue hat sich eben vorher zum Tor zu begeben, um dieses sofort schützen zu können.

Diese Regelung scheint nur Freundschaftsspiele zu betreffen. Von Auswechselungen im Arbeiterfußball-Punktspielalltag ist uns nichts bekannt. Die FIFA erlaubte Auswechselungen in Pflichtspielen erstmals zu dem WM-Qualifikationsspielen 1953/54, und da auch nur für je einen verletzten Spieler pro Team. 

 

6. Bestimmung, dass im Torraum verwirkte [indirekte] Freistöße von der angreifenden Partei stets auf der [parallel zur Torlinie liegenden] Torraumlinie zu erfolgen haben. Desgleichen ist Schiedsrichterball stets dort zu geben, wenn er im Torraum entstand.

Deckt sich mit unserem heutigen Regelwerk!

 

7. Abpfiff zwischen Torschuss und Treffer ist ungültig. Ein Treffer, dessen Abstoß vor dem Abpfiff des Spieles zur Halbzeit oder zum Schluss erfolgte, muss noch als gültig anerkannt werden.

Das klingt für eine Mannschaft, die bis zum Schluss auf ein Tor drängt, sicherlich ganz vernünftig. Im FIFA-Bereich galt diese Regelung aber bisher nicht.

 

 

8. Ein wegen unvorschriftsmäßiger Kleidung vom Spiel zurück gewiesener Spieler ist spielberechtigt, sobald er sich in vorschriftsmäßiger Kleidung beim Schiedsrichter meldet.

Diese ATSB-Regel von 1920 entspricht dem uns Nachgeborenen vertrauten Prozedere. Aber im bürgerlichen Fußball muss es 1920 wohl noch anders gehandhabt worden sein.

 

9. Kein Spieler darf ohne Erlaubnis des Schiedsrichters das Spielfeld verlassen. Dies ist ein Vergehen, das der Schiedsrichter in groben Fällen durch Ausschluss vom Spiel bestrafen kann. Ausgeschlossen ist das Verlassen infolge Unfalls. Auch gilt das Überschreiten der Spielgrenzen im Spieleifer nicht als Verlassen. Ein Aus-dem-Felde-stellen hebt auch die Abseitsstellung eines Spielers nicht auf.

Für das Verlassen des Feldes ohne Erlaubnis gibt es heute im Normalfall erstmal Verwarnung. Ausnahmen resultieren natürlich immer noch aus Unfälle, Spieleifer, Einwürfen etc. Jedoch das "Sich-aus-dem-Felde-stellen" hebt im FIFA-Fußball die Abseitsstellung auf.

 

10. Schiedsrichterball: Niederwurf (kein Hochwurf) an der Stelle, an der das Spiel zur Ruhe kam. Geschah dies im Torraum, hat der Niederwurf auf der nächstgelegenen Stelle der Torraumlinie zu erfolgen. Schiedsrichterball muss auch gegeben werden, wenn der Schiedsrichter das Spiel irrtümlich unterbrach, also keinerlei durch das Spiel bedingte Veranlassung vorlag. Springt der Ball nach dem Wurf über die Grenze, dann muss er widerholt werden. Kein Spieler darf den Ball früher spielen, bevor er den Erdboden berührte. Ein Verstoß dagegen bringt der Gegenpartei Freistoß.

Wenn ein Spieler beim Schiedsrichterball den Ball zu früh berührte, gab es also ab 1920 im ATSB Freistoß für den Gegner, was wohl gerechter ist als die gültige FIFA-Regel, wonach der Schiedsrichterball in solchem Fall einfach zu wiederholen ist.

 

11. Neben den zwei Linienrichtern ist es gestattet, auf jede Torlinie einen unparteiischen Torrichter zu stellen, dessen Aufgabe die Beobachtung der Torlinie und vor allem des Tores ist.

Diese Regeländerung von 1920 ist besondern interessant, denn in der Saison 2009/2010 setzte die UEFA erstmals Torrichter ("Additional Assistant Referees") in der Europa-Liga ein. Inzwischen gibt es auch in der Bundesliga und der Champions-League Torlinien-Schiedsrichter, die sogenannten Vierten Unparteiischen! Aber eben bisher nur in der UEFA, noch nicht bei der FIFA.

 

Souverän und stilbewusst: Schiedsrichter im Sonntagsanzug beim ATSB-Fußball (Freie Turnerschaft Neukölln-Britz – Freie Turn- und Sportvereinigung Nowawes 1894 1:1, 1919)

 

Fazit: Alles in allem machten die ATSB-Regeländerungen von 1920 also durchaus Sinn, bewährten sich dementsprechend und fanden auch Anwendung im Arbeiterfußball anderer Länder. Es ist davon auszugehen, dass auch der bürgerliche Fußball der damaligen Zeit von diesen Modifikationen Notiz nahm. Die Annahme, der Arbeiterfußball hätte das Regelwerk des FIFA- oder gar UEFA-Fußballs beeinflusst, wäre aber wohl etwas zu viel des Guten. Die Einführung des direkt verwandelbaren Eckstoßes 1924 beispielsweise erfolgte auf Anregung des schottischen Verbandes, der keinen proletarischen Konkurrenz-Verband hatte, so dass allein schon deshalb ein Ideenanstoß aus dem Arbeitersport unwahrscheinlich ist.

 

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Fachliche Beratung: Manfred Götz, Präsident des FSC Cargo Bulls Offenbach sowie Schiedsrichter in über 1250 Partien! 

 

Weiterführende Links:

 

1) "Schutz der Torwächter. Bei dem Spiel am 18. Januar 1920 Sportklub 1900 Stuttgart – Sportverein Stuttgarter Kickers erhielt der Kickers-Torwart einen Stoß an die Schläfe und musste bewusstlos vom Platze getragen werden. Bei dem Spiel am 8. Februar 1920 Spielvereinigung Tübingen – V.f.B. Stuttgart erhielt der Tübinger Torwart einen Stoß auf die Schädeldecke und musste mit schwerer Gehirnerschütterzung ins Krankenhaus überführt werden. Wenn der erste Fall für den Betroffenen glücklicherweise keine ernsten Folgen nach sich zog, so trifft dies um so mehr auf den zweiten Fall zu, da der Tübinger Torwächter, einem Gerücht zufolge, seinen Verletzungen erlegen sein soll.

In beiden Fällen handelt es sich um Ligavereine des D.F.B., also durchweg um erstklassige Vertreter des Fußballsports, so dass der Einwand, derartige Fälle seien bei geübten Spielern ausgeschlossen, nicht stichhaltig ist.

Jeder einsichtige Sportgenosse dürfte mir wohl darin beipflichten, dass es gilt, derartige Vorfälle nach Möglichkeit zu vermeiden, da letzten Endes das Ansehen des gesamten Fußballsports darunter zu leiden hat. Ich richte daher an den Bundesfußball-Ausschuss die Bitte, mit sofortiger Wirkung ein Verbot des Angriffs auf den Torwächter zu erlassen, und ersuche sämtliche Mitglieder des Arbeiter-Turn- und Sportbundes, mich in meinem Verlangen zu unterstützen.Das Leben eines Mitmenschen muss uns höher stehen als die zwei Punkte, die event. dadurch erzielt werden.

Die endgültige Regeländerung bleibt selbstverständlich dem an Pfingsten stattfindenden Bundesspielleiter-Kursus vorbehalten, das Verbot muss jedoch ergehen, ehe es zu spät ist." Richard Wurst, Freie Turnerschaft Stuttgart, Abt. IV.

 

"Diese warmherzige Aufforderung unterstütze ich mit allem Nachdruck und fordere alle Schiedsrichter auf, strengstens jeden Angriff mit den Beinen auf den Torwächter zu unterbinden. Alle Spielführer haben ihren Mannschaften mit Schilderung dieser Fälle – die durchaus nicht allein stehen – das Unterlassen jeden Beinangriffs auf den Torwächter eindringlichst zu untersagen." Richard Koppisch, Bundesturnwart ATSB in: "Freie Sport-Woche" Nr. 5 (18. Februar) 1920

 

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© Christian Wolter

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