Ukrainische Bergleute zu Besuch bei deutschen Arbeiterfußballern

 

Die Vorgeschichte

 

In der Nacht zum 4. Mai 1926 begann der erste Generalstreik in der Geschichte Großbritanniens. Über 1,5 Millionen Arbeiter gingen in den Ausstand. Der britische Gewerkschaftsverband Trades Union Congress (TUC) beendete den Streik nach 9 Tagen, die Bergleute kämpften noch bis zum 30. November 1926 weiter.

Die Führung der Sowjetunion glaubte damals noch an die Weltrevolution und unterstützte daher derartige proletarische Kämpfe in kapitalistischen Ländern. Das Zentral-Gremium der Sowjet-Gewerkschaften forderte am 5. Mai 1926 alle Einzelmitglieder auf, den streikenden britischen Klassenbrüdern einen Viertel-Tageslohn zu spenden. Als Sofortmaßnahme überwies das Gremium noch am selben Tag 250.000 Rubel an die TUC. 

 

Anzeige für das Spiel der Auswahl des 3. ATSB-Kreises gegen die Donezk-Bergleute im "Hamburger Echo"

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Am 7. Mai folgte eine weitere Überweisung von diesmal 2.000.000 Rubel. Der TUC nahm diese Gelder aber nicht an, wohl ahnend, dass diese Summen kaum freiwillig gespendet wurden. Wie richtig diese Vermutung war formulierte prägnant der damalige sowjetische Sportfunktionär und spätere Dissident Iwan Solonewitsch: 

"...sowohl ich wie der Arbeiter und der Bauer sind uns dessen vollkommen bewusst, daß der Staat nicht wir sind, daß dieser vielmehr die Weltrevolution heißt. Wir sind uns ferner bewusst, daß jeder gestohlene Rubel, jeder Arbeitstag, jede Getreidegarbe in eben diesen bodenlosen Abgrund der Weltrevolution wandert: nach China für die Rote Armee, nach England für einen Streik, nach Deutschland für die Rote Front und in die ganze Welt zur Mästung der Komintern-Bonzen..." 1

Der Generalsekretär der Miner's Federation of Great Britain, Arthur James Cook, reiste dennoch nach Berlin zu einer Konferenz mit Vertretern der sowjetischen Bergarbeiter-Gewerkschaft. Es konstituierte sich ein britisch-sowjetisches Bergmann-Komitee, um gemeinsame revolutionäre Aktionen umzusetzen. Das Thema wurde immerhin so hoch angebunden, dass Stalin als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion am 15. Juli und am 7. August 1926 öffentlich dazu sprach.

Der intensive Austausch der Arbeitnehmer-Delegationen in Berlin führte letzlich nicht zum bolschewistischen Umsturz im Vereinigten Königreich, aber zu einer Reise britischer Bergarbeiter-Vertreter in die Sowjetunion und einer Tournee ukrainischer Bergarbeiter als Fußball-Mannschaft nach Deutschland!

 

Die Donezk-Mannschaft mit Betreuern bei ihrer Ankunft in Berlin, unser Freund Chmara hier im dunklen Anzug

 

Ein sympathischer Kommunist

 

Denn auf Vorschlag des Obersten Rates für Körperkultur der Ukraine organisiert die Ukrainische Union der Bergleute eine "Nationalmannschaft" aus Vertretern verschiedener Minen der Region Donezk bzw. Donbass: A. Nowikow, P. Kutsow und K. Babulin (alle aus Gorliwka), Gawrilenko, A. Plokik und Schaliuta (aus Stalino, dem heutigen Donezk), Karp Schulzenko, F. Korniewsky, K. Belold, Grigori Wasedchenko und Nikolai Golubtsow (Kadijiwka), Pawel Bykow und Gurow (aus der Mine Brjansk, dem Sieger der Interdistrikt-Meisterschaft 1926) sowie Melnikow (Wetka) und Nesterow (Makijiwka).

Diese Delegation leitete der ukrainische Fußball-Funktionär Buslaew. Ebenso zum Reisekader gehörte ein gewisser W. W. Chmara, Leiter der Kulturabteilung der Bergarbeiter-Gewerkschaft. Kurz vorher hatte er die Sowjetreise der britischen Bergarbeiter-Vertreter begleitet. Dabei hatte ihn die Ehefrau des bereits erwähnten Iwan Solonewitsch kennen gelernt und Chmara in ihrem Buch "Hinter den Kulissen der Sowjet-Propaganda" so beschrieben: 

"Als der Zug sich in Bewegung setzte erschien im letzten Augenblick noch der Genosse Chmara. Ein hübscher Kerl mit blonden Locken, großen blauen Augen und einem freundlichen Lachen, sah er so ganz anders aus als der gewöhnliche, misstrauische Kommunist. Er war aus Charkow zum Empfang und zur Begleitung der englischen Delegation hinbefohlen worden. Er war nämlich Vertreter der Bergarbeiter im Dongebiete. Er hatte eine prächtige Stimme, und wenn er auch kein Wort Englisch sprach, so entwickelten sich bald zwischen ihm und den Engländern freundschaftliche und ungezwungene Beziehungen ... 

Bei dem russischen Teil der Delegation war Chmara eine ständige Quelle des Vergnügens, da er eine Menge ukrainischer Anekdoten, Lieder und Gedichte kannte, von denen die Hälfte sicherlich eigenes Erzeugnis war. Später habe ich in Moskau diese Gedichtsammlung gesehen und noch später gehört, dass er, einer Abweichung von der Parteilinie beschuldigt, seines Amtes als Sekretär des ukrainischen Bergarbeiter-Verbandes enthoben wurde und schließlich ganz von der Bildfläche verschwand. Chmara war eines des seltenen Exemplare eines 'sympathischen Kommunisten.'" 2

 

Annonce im "Nordischen Arbeitersport" Nr. 39 (29. September) 1926

 

Warten auf Visa

 

Vor der Abreise nach Deutschland musste die Truppe erst einmal für internationale Aufgaben fit gemacht werden. Drum ging es für vier Wochen ins Trainingslager nach Charkiw. Für die Bergleute, die als Zivilisten kaum je ihre Gegend verlassen hatten, war diese erste Etappe schon eine großartige Sache. 

Während dieses Monats bestritten sie mehrere Spiele. Das erste gegen "ORK", den Fußballklub des Oktyabrsky-Kreises, endete 0:5. Es fehlte vor allem an Kondition. Nach dem Abstellen der offensichtlichsten Schwachstellen brachte das nächste Spiel einen 5:0-Erfolg gegen "Tekstil-Schchiki". Gegen "Rabis", damals das stärkste Team aus Charkiw, erreichte man ein achtbares 0:2. Auch die Revanche gegen "ORK" endete mit 0:1 ehrenvoll.

Dann fuhren die Bergleute weiter nach Moskau. Die Wartezeit auf die Genehmigung zur Einreise nach Deutschland überbrückte man mit Freundschaftsmatchs, ohne dabei nennenswerte Erfolge zu erringen. Die Visa-Bearbeitungen zogen sich wochenlang hin; vielleicht auch, weil das deutsch-sowjetische Verhältnis noch durch den Leipziger Tscheka-Prozess gegen eine kommunistische Untergrund-Organisation und die Kindermann-Wolscht-Affäre belastet war.

Doch schließlich kam die Erlaubnis der deutschen Behörden, und das Fußball-Abenteuer der Bergleute konnte richtig losgehen. Bei einem kurzen Zwischenstopp in Litauen wurde eine dortige Auswahl, laut Sowjet-Presse sogar die lettische Nationalmannschaft, mit 7:0 deklassiert. Kein schlechter Auftakt für das ukrainische Fußball-Kommando!

 

Erinnerungsfoto vor dem Spiel in Hamburg, die Gäste in weißen Trikots

 

Erste Station Berlin

 

Zum Auftakt spielten die Bergmänner gegen die Auswahl der Märkischen Spielvereinigung. Die MSV war der regionale Fußballverband des Arbeiter-Turn- und Sportbundes für Berlin-Brandenburg. Zum Befremden der Ukrainer kamen zum Empfang am Bahnhof nur wenige Vertretern der KPD und des in Berlin kommunistisch dominierten Arbeitersports.

Laut Sowjet-Presse lautete die Entschuldigung der Berliner Genossen: "Wir hätten nie zu hoffen gewagt, dass die Gäste genau zur festgesetzten Zeit ankommen würden." Der kommunistische Berliner "Arbeiter-Fussball" schob den schwarzen Peter der SPD-nahen ATSB-Zentrale in Leipzig zu, welche erst am Freitag nachmittag vom Ankommen der Ukrainer Sonnabend früh informiert hätte. 

Das Spiel auf dem Platz des MSV-Vereins BFC Adler von 1912 (die heutige Hanne-Sobek-Sportanlage) besuchten nur 2500 Zuschauer. Die Sowjet-Presse lieferte dafür die abenteuerliche Erklärung, deutsche Behörden hätten extra ein bürgerliches Spiel auf einem Nachbarplatz angesetzt und damit 10.000 potentielle Interessenten des ukrainischen Auftritts ferngehalten. 

Vielleicht war dies auch nur eine von den Gastgebern aufgetischte Notlüge. Der Berliner "Arbeiter-Fussball" war so ehrlich, schlechte Werbung in der eigenen Presse einzugestehen. So hatte die kommunistische Boulevard-Zeitung "Welt am Abend" überhaupt nicht auf das Spiel hingewiesen, das KPD-Blatt "Die Rote Fahne" erst am Morgen des Spieltages. Immerhin hatte aber auch der sozialdemokratische "Vorwärts" das Spiel angekündigt.

"Lebhafter Beifall begrüßte die unter wehenden roten Fahnen einmarschierenden ukrainischen Arbeitsbrüder. Gen. Riese begrüßte die Vertreter Rußlands namens der KPD. In der Erwiderungsrede überbrachte Genosse Chmara die Grüße der russischen Volksgenossen und ersuchte die deutschen Arbeiter, an der Einigung der werktätigen Bevölkerung mitzuhelfen."

Die Berliner Auswahl war noch kurzfristig umgestellt worden, weil einigen MSV-Vereinen der Einsatz ihrer Spieler in anstehenden Punktspielen wichtiger war als bei diesem internationalen Ereignis. Die in dieser Zuammensetzung zum ersten und einzigen Male spielenden Berliner Arbeiterfußballer harmonierten aber überraschend gut und wechselten mit 1:0 die Seiten.

Chmara erinnerte sich später so an das Spiel und dessen Umstände: "Sofort ein Angebot, mit der Berliner Nationalmannschaft zu spielen. Es war beängstigend, gegen die besten Kräften der Hauptstadt zu kämpfen. Wir hatten erwartet, in den Provinzen mit den Bergleuten zu spielen. Wir entschieden uns jedoch, auch gegen Berlin zu spielen. Unter roten Fahnen, mit dem Gesang der 'Internationale' und von Polizei eskortiert (sie sagen: 'der Ordnung halber') gingen wir zum Sportplatz und wurden mit langen Applaus von 3000 Menschen begrüßt. 22 bestrafte Fouls der deutschen Mannschaft und nur vier von uns sprechen hell über die Technik des Spiels." 3

In der 2. Halbzeit legten die Donezker ihre anfängliche Nervosität ab und trafen durch Nikolai Golubtsow und Grigory Wasedschenko. Dann ging Berlin wieder in Führung, ehe kurz vor Schluss Golubtsow der Ausgleich gelang. Den der Schiedsrichter wegen vermeintlichem Abseits jedoch nicht anerkannte. So blieb es beim 3:2 für die Gastgeber.4

Auch wenn ein 3:3 nach Hause gemeldet wurde, auf das auch Chmara beharrte ("Das Ergebnis ist 3: 3"5und bis heute auch ukrainische Statistiken!

 

Der sympathische Kommunist Chmara bei seiner Rede vor dem Spiel in Hamburg

 

Bremen und Hamburg

 

Nächste Station war Bremen, hier übernahm der SV Weser 08 die Vertretung des Arbeiter-Turn- und Sportbundes. Weser 08 hatte 1924 Fußballgeschichte geschreiben, indem die I. Mannschaft als erstes deutsches Team Sowjet-Russland und auch die Ukraine bereiste. Beim "Rückspiel" in Bremen errangen die Donezker einen ungefährdeten 2:0-Erfolg.

Danach ging es weiter nach Hamburg zum Spiel gegen die Auswahl des 3. Kreises im ATSB. Wieder führte ein verspätetes Telegramm zu Irritationen; am Samstagabend wartete am Hauptbahnhof eine große Zuschauermenge, darunter auch der örtliche Rotfront-Kämpferbund. Doch die Ukrainer kamen erst am nächsten Vormittag, als nur noch eine kleine Empfangsriege die Stellung hielt.

Dafür herrschte nachmittags großer Andrang auf dem bürgerlichen Victoria-Platz in Hoheluft und auf den zuführenden Straßen. Trotz Sonderwagen bewältigte die Straßenbahn kaum die Besucher-Massen. Pünktlich um ½ 4 marschierten 200 Mann des bekannten Hamburger Trommler- und Pfeiferkorps den Platz und nahmen in dessen Mitte Aufstellung. Die Musik verstummte und die Ukrainer betraten das Feld. Auf den Rängen setzte Applaus der 12.000 Zuschauer ein. Dann folgte die Auswahl der Gastgeber.

 

Aufstellung zum Erinnerungsfoto; links die Donezk-Auswahl, in der Mitte die Offiziellen, im hellen Anzug Genosse Chmara

 

Zur Begrüßung sprach Kreis-Vorsitzender Friedrich Zabel: "Liebe Arbeitersport-Genossen und Freunde des Sports! Der 3. Kreis des Arbeiter-Turn- und Sportbundes hat zum ersten Male russische Sportgenossen zu Gaste. Wir freuen uns ganz besonders, daß wir nach den Spielen mit englischen, finnischen und belgischen Arbeiter-Mannschaften hier in Hamburg heute die Orientierung auch nach Osten, die wir bereits vor Jahresfrist forderten, von Bundeswegen vollzogen haben.

Aus diesem Grunde begrüße ich Euch, liebe Sportgenossen aus den Bergwerken der Ukraine, namens der Kreisverwaltung besonders herzlich. Wir hoffen mit Euch, daß diese ersten Annäherungen baldigst zu dem Endziel, zu unserer Vereinigung in einer Internationale führen werden.

Unsere großen Arbeiter-Fußballspiele mit ausländischen Mannschaften, die wir in letzter Zeit in Hamburg gezeigt haben, sollten und sollen selbstverständlich den hohen Stand des Arbeiter-Fußballspiels demonstrieren; aber wir haben in jedem Spiel auch bewiesen, daß der Arbeitersport nicht danach trachtet, in dem Spieler der anderen Mannschaft einen Gegner zu finden, sondern einen Mitspieler, einen Genossen; der Kampfcharakter liegt uns fern. Wir bitten unsere Zuschauer, diese unsere Einstellung zu beachten."

Zabels Rede endete mit dreifachem "Frei Heil!", in das die Zuschauer begeistert einstimmten und applaudierten. Dann sprach der sympathische Kommunist Chmara. In der simultanen Übersetung wurde der etwas schmale Empfang am Hamburger Hauptbahnhof erwähnt. Ein Teil des Publikums murrte, aber wie sich später herausstellte, kam diese Anmerkung nicht von Chmara selbst, sondern vom Dolmetscher, den die KPD gestellt hatte!

 

Donbass-Bergleute (schwarze Hosen, rote Hemden) gegen SV Weser 08 Bremen, 1. Oktober 1926 im Bremer Bürgerpark

 

Mit "Frei Heil!" begann auch das Spiel. Flott und fair ging es torlos in die Pause, diese "verschönt durch das Spezialkorps der Hinschenfelder Freien Turnerschaft"10 Minuten nach Wiederbeginn erzielten die Gäste durch Pawel Bykow die Führung, "allerdings nach vorhergehender Hand". In der 66. Minute schoss der Halbrechte Kurzow das 2:0. Kurz vor Schluss verwirkte Karp Schulzenko einen Handelfmeter. Und obwohl es im deutschen Arbeiterfußball zum guten Ton gehörte, Elfmeter absichtlich zu verschießen, landet dieser im Netz. Endstand 1:2.6

Wenn man der ukrainischen Quelle Glauben schenken darf, dann lehnten die Donbass-Fußballer während ihrer gesamten Tour alle ihnen zugesprochenen Penaltys ab: "Aber nicht, weil sie keinen verdient hätten. Nein, diese Situation ist auf ihren hohen 'Adel' zurückzuführen. Die Zuschauer freuten sich über die Ablehnung der Ukrainer auf den 11-Meter-Punkten vor den Toren der Deutschen." 7

 

Mitteilung im SPD-Blatt "Mecklenburger Volkszeitung" vom 5. Oktober 1926

 

Dies war das erste von zwei "Russenspielen" in Hamburg, das andere fand ein Jahr später, ebenfalls auf dem Victoria-Platz, zwischen der ATSB-Auswahl und der Vertretung der Sowjetunion statt. Im Roman "Die Söhne" des proletarischen Schriftstellers Willi Bredel fanden diese Spiele literarische Verewigung:

"Anfangs fand Walter die vielen Besuche der Kunstausstellungen, in die er Heli begleitete, alles andere als angenehm und, waren Helis Malerkollegen dabei, oft sogar recht langweilig. Aber er lernte dadurch doch vieles, was er bisher nicht gewußt hatte. Und umgekehrt ging auch Heli zu mancher Veranstaltung, in die sie ohne Walter nie gegangen wäre.

Als die russische Fußballmannschaft gegen die Mannschaft eines deutschen Arbeitersportvereins spielte, draußen in Hoheluft, saß sie brav neben Walter unter den vielen, vielen Menschen in dem großen Stadion. Sie fand die Zuschauer bedeutend amüsanter als das Spiel. Diese Begeisterung! Diese Leidenschaft! Wie urplötzlich, weil irgendein Spieler mit dem Ball übers Feld rannte, Hunderte, Tausende Menschen aufsprangen und schrien und brüllten und mit den Armen gestikulierten! Sie fand das lustig anzusehn. 

Als nach dem Spiel Walter fragte, ob sie mal wieder zum Fußballspiel gehen würde, nickte sie eifrig. "Ja! Interessant ist das", sagte sie. "Hab ich gar nicht gewußt. Das nächste Mal nehme ich meinen Zeichenblock mit." 8

 

Vor dem Spiel gegen Solingen-Remscheid (5:3), die Gäste in schwarzen Hosen und roten Dressen

 

In Thüringen und Westdeutschland

 

In Gera ging es gegen eine dortige Arbeiter-Auswahl: "Schon eine Stunde vor Beginn des Spiels umstanden mehrere hundert Personen das Spielfeld, der kommenden feierlichen Augenblicke harrend. Allmählich füllte sich der Platz, und als dann die Russen geschlosssen, frohe Lieder singend, von einer unzähligen Menschenmenge gefolgt, den Platz erreichten, setzte ein tosender Beifall ein.

Kurz vor ½ 5 Uhr betraten beide Mannschaften den Platz, sich gegenseitig mit ihrem Bundesgruß begrüßend. Das Spiel selbst stand sportlich sowie technisch auf hoher Stufe. Vor allem fiel während des Spieles die mustergültige Ruhe beider Mannschaften auf. Die Russen spielten wohl einen etwas besseren Fußball als unsere Genossen, nur fehlte ihnen der krönende Torschuß. Sie kombinierten vor dem Tor zu viel, was zur Folge hatte, daß das Resultat nicht anders lautete. Die Geraer Genossen spielten den von uns als gut bezeichneten Fußball mit allen seinen Raffinessen und Feinheiten, aber teilweise manchmal etwas hart.

In der Russenmannschaft war der Torwart ein Genie. Den Torabstoß machte dieser nicht mit dem Fuß, sondern schlug den Ball mit der Faust bis in die Mitte des Spielfeldes. Verteidiger und Läuferreihe waren glänzend aufgestellt. Der rechte Läufer war wohl überhaupt der beste Mann auf dem Platze. Der Sturm in sich verstand es großartig zu kombinieren, nur manchmal etwas zu viel. Der Schiedsrichter Senf (TV Gera-Pforten) war dem Spiel ein aufmerksamer und gerechter Leiter."

In der 15. Minute fiel das 1:0 für Gera durch deren Halblinken. 5 Minuten später rückte die Thüringer Verteidigung zu weit auf, und schon ging der Ball ins leere Tor. Nach der Pause erneute Geraer Führung, 10 Minuten vor Schluss Beginn der ukrainischen Schlussoffensive, schließlich den hochverdienten Ausgleich unter dem Jubel des Publikums, und weiterer Druck der Gäste, die nun den Sieg wollten, aber leider "ertönte, für alle Zuschauer viel zu früh, der Schlußpfiff. Ein solches Spiel ist seit langem in Gera nicht gezeigt worden. Unseren russischen Genossen ihren hohen Leistungen entsprechend, ein nochmaliges 'Frei Heil!'" 9

In Solingen trafen die Bergleute auf ein Team von Solinger und Remscheider Maschinenbauern und Metallarbeitern. In diesem Spiel hatten die Donbass-Fußballer vor allem Probleme mit der 1925 eingeführten Abseitsregel. Bis dahin lag kein Abseits vor, wenn sich mindestens drei verteidigende Spieler zwischen Torlinie und Angreifer befanden. 1925 hatte der Fußball-Weltverband auf zwei reduziert, und diese Neuerung hatte der Gastgeber bereits verinnerlicht, die Ukrainer aber noch nicht. Beim folgenden Spiel in Essen gegen eine dortige Arbeiter-Auswahl gelang ein 3:3.

 

Beim Spiel in Essen: "Torhüter und ein Verteidiger der Russen hindern sich gegenseitig bei Abwehr einer Flanke von links."

 

Politischer Zündstoff

 

Neben dem Kampf um den Ball gab es bei dieser Tour und überhaupt im Arbeitersport den Kampf zwischen Sozialdemokratie und Kommunisten. Die Mehrheit der Sportler und Funktionäre stand der SPD nahe und eine nicht unerhebliche Minderheit den Kommunisten. Dieser Konflikt unter dem Dach des Arbeiter-Turn- und Sportbundes führte zwei Jahre später zum klaren Schnitt, indem der ATSB Einzelmitglieder, Vereine und ganze Unterorganisationen (wie die Märkische Spielvereinigung) wegen kommunistischer "Spalt- und Wühltätigkeit" ausschloss.

Bis dahin bemühte sich der ATSB um parteipolitische Neutralität und erwartete dies in sportlichen Belangen auch von seinen Mitgliedern. Im Widerspruch dazu versuchten radikale Kräfte, Besuche sowjetischer Mannschaften für kommunistische Propaganda zu vereinnahmen. Etwa durch Aufmärsche des Roten Frontkämpfer-Bundes zu Empfängen und Spielen und mit dem Anheizen von Konflikten, wie durch die manipulierte Chmara-Rede in Hamburg.

Der ukrainische Delegationsleiter Buslaew erhob später den Vorwurf, der vom Arbeiter-Turn- und Sportbund zugeteilte Betreuer, der Leipziger Sozialdemokrat Pohle, hätte seine Tätigkeit auf materielle Leistungen beschränkt. Besuche von Tierparks und Theatern seien problemlos möglich gewesen, Ausflüge in Fabriken und Bergwerke jedoch nicht. Das Studium der deutschen Lebens- und Arbeitsbedingungen sei angeblich von der Polizei verboten worden. Man sei "in den besten Hotels gehalten" worden, "damit wir nicht sahen, wie das Proletariat lebt".

Abgesehen davon, dass es Besuchern der Sowjetunion kaum anders erging, ist es fraglich, ob es überhaupt im Interesse der politischen Delegationsleitung lag,  dass sich die Spieler ein authentisches Bild vom Leben deutscher Arbeiter machen konnten. Denn den deutschen Proletariern ging es unter dem Joch des Kapitalismus wesentlich besser als den sowjetischen Klassenbrüdern 15 Jahre nach dem Sieg der Oktoberrevolution. Der deutsche Proletarier-Film "Kuhle Wampe" (1932) durfte in der Sowjetunion nicht gezeigt werden, weil das dargestellte Proletarierelend deutlich über den Lebensstandard normaler SU-Bürger lag. 

Es gab auch Beschwerden über die Verpflegung in Deutschland, sie wurde "wertlos" genannt wegen "Mangel an Brot und ukrainischem Borschtsch“. Dies ist kaum für bare Münze zu nehmen. Der ATSB konnte anhand der Quittungen nachweisen, dass die Sätze für Verpflegung und Unterkunft der Ukrainer weit über dem lagen, was sich deutsche Werktätige von ihren Löhnen leisten konnten.

Bekrittelt wurde auch noch das "Reisen in unbequemen Zügen im Stehen durch Deutschland", wo Damen und alte Menschen mit Sitzplätzen bevorzugt wurden.10 Wobei kaum anzunehmen ist, dass ukrainische Bergarbeiter in ihrer Heimat bequemer reisten. Vielmehr sollte durch solche Verlautbarungen wohl der Eindruck entstehen, in der Sowjetunion lebe es sich schon bedeutend besser als in Deutschland.

 

Arbeiterfußball gleichauf mit Bayern München in der "AZ am Abend" vom 16. Oktober 1926

 

In Nürnberg und München

 

Der 7. Kreis im ATSB umfasste ursprünglich ganz Bayern. Das Anwachsen der Arbeitersport-Bewegung machte dann 1922 die Teilung in zwei eigenständige Kreise nötig: in den 7. Kreis (Nordbayern mit Sitz in Nürnberg) und den 19. Kreis (Südbayern, Sitz in München). 

Beim Spiel in Nürnberg hatten sich trotz Regen an die 5000 am Platz der Freien Turn- und Sport-Vereinigung Südost eingefunden. Die Ukraine lief in schwarzen Hosen und roten Jerseys mit aufgenähtem Wappen auf. "Eine schmucke Sportlerin sowie Kreisvorsitzender Gen. Deinhardt begrüßten die Gäste und erstere übergab einen hübschen Blumengruß."

Nürnberg ging in Führung durch Eigentor des rechten Ukraine-Verteidigers. Im zweiten Durchgang steigerte sich der Regen, wodurch das Spiel an Wert verlor. In der 65. Minute vollendete Nürnberg mit 2:0 den Endstand, der Ball rutschte dem Gäste-Torwart über die Hände. Weitere glasklare Chancen für Nürnberg blieben ungenutzt. Alles in allem fällte die "Freie Sport-Woche" das wohl noch höfliches Resümee: "Die Leistungen der Gäste kamen, mit Ausnahme der beiden Verteidiger, über Mittelmaß nicht hinaus." 11 

Zum letzten Spiel dieser Tournee kamen 5-6000 Besucher zum Platz des bürgerlichen DSV München. "Allerdings machten die Russen – sie spielten ihr 8. Spiel – einen etwas übermüdeten Eindruck. Ein Hände-Elfmeter bringt die Russen in Führung [also doch!]. "Kurz darauf glich Aschenbrenner auf Flanke von Fischer aus. Der siegbringende Treffer fiel in der zweiten Halbzeit auf eine Ecke, die von Trögler schön getreten, durch Kommer direkt verwandelt wurde." 12

 

Erinnerungsfoto vom Spiel in München auf dem DSV-Platz an der Marbachstraße

 

Die "Freie Sport-Woche" konnte den Gästen ihre Kritik nicht ersparen: "Das Spiel selbst brachte uns eine Enttäuschung, nämlich die Russen selbst. Diese Ukrainer werden wohl kaum mit den Moskauern auf eine Stufe zu stellen sein. Denn der Fußball, mit dem sie uns aufgewartet haben, ist völlig veraltet. So müssen unsere Vorfahren Anno'lang ist's her' gespielt haben. Ein hohes, planlos erscheinendes Ballhin- und herschlagen, dann mächtige Spurts mit Bombenschuss über das Tor, das konnte man durch das ganze Spiel sehen.

Wären die Gäste nicht so rasend flink gewesen, und hätten dabei nicht diese einfach verblüffende Ballsicherheit gezeigt, dann wäre das Spiel völlig reizlos geworden. So aber war es von Anfang bis zum Ende sehr schnell und reich an spannenden Momenten. Auch haben sie ein hartes An den Mann gehen und nützen den Körper sehr im Kampfe um den Ball."

Und zu den Münchnern hieß es an gleicher Stelle: "Die Münchener Städtemannschaft war verstärkt und spielte ansprechend. Überragende Leistungen wurden zwar nicht geboten, aber in punkto Technik hatten sie den Russen gegenüber viel voraus. Daß das Spiel einen meist ausgeglichenen Verlauf nahm, ist dem Mangel an Taktik zuzuschreiben. Und taktisch haben die Münchener nichts geleistet. Neunzig volle Minuten haben sie einen schweren Fehler begangen. Unsere Mannschaft hat sich das Spiel der Russen aufzwingen lassen. Das war falsch. Hätten sie immer wieder versucht, den Ball am Boden zu halten und dem Nebenman flach zuzuspielen, dann hätte es am Ende wesentlich überzeugender ausgeschaut. Das Können wäre dagewesen, es hat nur der Gedanke dazu gefehlt." 13

 

Moment aus dem Spiel der Münchner Arbeiterauswahl gegen die Donezk-Bergleute

 

Sportliches Resümee

 

Die Gesamtbilanz der Donezk-Auswahl lautete auf 2 Siege, 2 Remis und 4 Niederlagen bei 15:18 Toren. Laut sowjetischen Quellen standen hingegen vier Siege mit 19:15 Tore zu Buche, darunter auch ein nie stattgefundenes 3:1 "über die Leipziger Nationalmannschaft". Auch wurde das 0:2 in Nürnberg in der sowjetischen Berichterstattung zum 2:0-Sieg verklärt.14

Doch es kann nicht den Donezk-Spielern zum Vorwurf gemacht werden, dass Propagandisten ihre Ergebnisse schönten. Sie waren nun mal keine Staatsprofis wie die Moskau-Auswahl, die einige Wochen vorher Deutschland bereist und in sieben Spielen dreimal zweistellig gewonnen hatte. Unsere wackeren Bergleute aus dem ukrainischen Kohlegebiet mit ihrem soliden Kick and Rush waren einfache Arbeiter und erst an zweitr Stelle auch Fußballer. Genauso wie ihre deutschen Gegner, mit denen sie sich dadurch auf Augenhöhe trafen. Und das macht ihre reellen Resultate auch nach 100 Jahren noch sportlich wertvoll.

 

 

Statistik zur Deutschland-Tournee der Donezk-Auswahl 1926

 

  • 26. 9. 1926 Auswahl der Märkischen Spielvereinigung – Donezk-Auswahl 3:2 (1:0), Platz des BFC Adler 1912 in Berlin-Gesundbrunnen, 2500 Zuschauer
  • 1. 10. 1926 SV Weser 08 Bremen – Donezk-Auswahl 0:2 (0:1), Bürgerpark-Sportplatz, 3000
  • 3. 10. 1926 Auswahl 3. Kreis – Donezk-Auswahl 1:2 (0:0), Victoria-Platz Hamburg-Hoheluft, 12.000
  • Okt. 1926 Auswahl Gera – Donezk-Auswahl 2:2 (1:1), in Gera, 3000
  • 9. 10. 1926 Auswahl Solingen-Remscheid – Donezk-Auswahl 5:3 (3:1), Sportplatz Feldstraße in Solingen-Hohscheid, 5000
  • Okt. 1926 Bezirks-Auswahl Essen – Donezk-Auswahl 3:3, Essen, ca. 3000
  • 15. 10. 1926 Auswahl Nürnberg – Donezk-Auswahl 2:0 (1:0), Platz der Freien Turn- und Sport-Vereinigung Südost, 5000
  • 17. 10. 1926 Auswahl München – Donezk-Auswahl 2:1 (1:1), DSV-Platz München, 5-6000

 

***

 

1 Iwan Solonewitsch "Die Verlorenen : Eine Chronik namenlosen Leidens  Teil I: Rußland im Zwangsarbeitslager" (Essen 1937), S. 29/30

2 Tamara Solonewitsch "Hinter den Kulissen der Sowjetpropaganda : Erlebnisse einer Sowjetdolmetscherin" (Essen 1937), S. 67 oder hier als russischsprachiges Digitalisat für die automatische Übersetzung z.B. mit Google Chrome

3  "Entstehungsgeschichte des Fußballs in der Region Luhansk" auf kopanyi-myach.info

4  "Arbeiter-Fussball" (Berlin), Nr. 39/29. September 1926

5  kopanyi-myach.info

6  "Nordischer Arbeitersport", Nr. 40/5. Oktober 1926

7  Ukrainischer Bericht zur Donbass-Tour 1926 auf donezk.com

8  Willi Bredel "Die Söhne", (Ost-)Berlin 1949, S. 510

9  "Freie Sport-Woche" vom 13. Oktober 1926

10 Donbass-Tour 1926 auf donezk.com 

11 "Freie Sport-Woche" vom 20. Oktober 1926

12 "Ingolstädter Anzeiger" vom 20. Oktober 1926

13 "Freie Sport-Woche" vom 27. Oktober 1926

14 kopanyi-myach.info

 

Für Infos und Bilder besten Dank nach Hamburg an Werner Skrentny und René Senenko, an unsere ukrainischen Sportgenossen Sergej Schwerts, Alexej Babeschko sowie an Jefgeni Jasenow von donezk.com!

 
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