Der ATS Buntentor aus Bremen – Teil II

 

In den ersten Nachkriegsjahre erlebte das gesamte Turn-und Sportwesen einen kaum für möglich gehaltenen Aufschwung, gleich einer Flucht der Bevölkerung aus der hemmungslosen Zerstörung des verheerenden Krieges zurück in die geordneten Verhältnisse des zivilen Lebens.

Die Turnhallen wurden immer voller, und gar bald war nicht nur der Vorkriegs-Mitgliederstand erreicht, sondern sehr ansehnlich übertroffen. Während nun die Turner mit ihren Abteilungen in der Turnhalle der Schule an der Kornstraße eine zufriedenstellende Unterkunft gefunden hatten, blieben die Fußballer noch ohne Übungsplatz. Ein Gelände für einen neuen Sportplatz wurde dem ATS Buntentor jedoch bald hinter der Brettmann´schen Badeanstalt in der Nähe des Wasserwerks zur Verfügung gestellt, ungefähr dort, wo heute der Schimmverein von 1910 angesiedelt ist.

 

Demonstration Bremer Arbeiterfußballer mit den Losungen "Fußball-Sport gehört in die Schule", "Schafft Spielplätze" und "Übung macht die Kraft! Kraft ist welche schafft!"

 

Es handelte sich um eine Weide mit verfüllten Abzugsgräben, die sich noch als flache Mulden abzeichneten, was eine vollkommene Umplanierung erforderlich machte. Wie in den ersten Jahren nach der Gründung wurden die Mitglieder zur Mitgestaltung des Sportplatzes aufgerufen. Schienen und Loren für Erdbewegungen wurden beschafft und die Mulden aufgefüllt mit Sand vom Weserstrand in Höhe der Sielwall-Fähre.

Im Mai 1922 beging der ATS Buntentor die Einweihung seines neuen Sportplatzes mit zwei Spielfeldern, eins sogar mit Aschenbahn. Die Fußballer konnten sich wieder ihrem Spiel widmen und die Turner und Turnerinnen hatten ausreichende Möglichkeiten, Schlagball und Faustball bzw. Trommelball zu spielen. Die neue Holzbaracke diente zunächst nur zur Kleiderablage, aber durch ständige Erweiterungen entwickelte sie sich zu einem regelrechten Vereinsheim, einer Stätte für ein familiäres Vereinsleben wie vor dem Kriege.

 

Sportplatz-Eröffnung im Mai 1922

 

Die verheerende Inflation der Nachkriegsjahre erreichte 1923 ihren Höhepunkt und räumte die Vereinskasse restlos aus. Die Beiträge, einzige Einnahme des Vereins, mussten ständig erhöht werden. Aber trotz aller Bemühungen reicht es weder hin noch her. Die Inflation griff rasend um sich, und nicht nur unsere Mitglieder, sondern die ganze deutsche Bevölkerung fing an zu resignieren. Ein einigermaßen vernünftiges Handeln war fast unmöglich geworden.

 

Im Juli 1922 richtete der Arbeiter-Turn- und Sportbund in Leipzig sein 1. Bundes-Turnfest aus. Hier marschieren Bremer Arbeitersportler Richtung Bahnhof zur Abreise nach Leipzig.

 

Als typisches Beispiel mag die Beitrags-Entwicklung dienen. Nach der ersten Erhöhung im August 1919 (auf nunmehr 1,- Mark für die Männer, 0,70 Mark für Frauen und Jugendliche, Kinder nach wie vor noch 0,30 Mark) kletterten die Beiträge bis August 1922 auf folgende Höhen: Männer 25,- Mark, Frauen und Jugendliche 10,-, Passive 20,- und Kinder 3,- Mark. Erstmals mussten Fußballspieler (auf Antrag der Fußball-Abteilung) ein Sonderbeitrag von 2,- Mark entrichten.

Aber die fortschreitende Geltentwertung machte es bald schon notwendig, die Beiträge Monat für Monat zu erhöhen. Mit der letzten Erhöhung vom 20.Oktober 1923 fand die Inflation der Vereins-Beiträge in folgenden Sätzen ihren niederschmetternden Abschluss: Männer 500 Milliarden, Passive 400, Frauen und Jugendliche 300 sowie Kinder 100 Milliarden Mark!

 

Damen und Herren vom ATS Buntentor beim 1. Bundes-Turnfest des ATSB am 23. bis 25. Juli 1922 in Leipzig

 

Auf der gleichen Ebene liegt als Beispiel auch noch die nachstehende Abrechnung zum Herbstfest der Fußball-Abteilung am 3. November 1923 vor:

 

Einnahmen

  • 66 Herrenkarten à 15 Mrd. = 990 Mrd. Mark
  • 74 Damenkarten à 10 Mrd. = 740 Mrd. Mark 
  • 3 Herrenkarten à 10 Mrd. = 30 Mrd. Mark
  • 6 Damenkarten à 5 Mrd. = 30 Mrd. Mark
  • Versteigerung = 62 Mrd. Mark
  • Verknobeln ("Berliner") = 1534 Mrd. Mark 

Summe: 3386 Milliarden Mark

 
Ausgaben
  • "Berliner" (= Pfannkuchen) = 1000 Mrd. Mark
  • Vergnügungssteuer = 98,6 Mrd. Mark
  • Musik = 1176 Mrd. Mark
  • Plakate etc. = 136 Mrd. Mark
  • Tanzschein = 11,200 Mrd. Mark

Summe: 2421 Milliarden und 800 Millionen Mark

 

Bilanz: Mehreinnahme von 964,2 Milliarden, also fast eine Billion Mark! Mit Einführung der Rentenmark am 15. November 1923 fiel diese Summe zurück auf reale 964,20 RM. Nun herrschten also wieder Friedenspreise wie vor dem Ersten Weltkrieg, mit dessen Eintritt Deutschlands im August 1914 die Entwertung der Mark begonnen hatte.

 

Überfluteter Platz des ATS Buntentor beim Weser-Hochwasser 1926, im Hintergrund der Osterdeich.

 

In sportlicher Beziehung konnten alle Abteilungen des ATS Buntentor in den Jahren von 1923 bis 1930 einen hervorragenden Aufstieg verzeichnen; insbesondere die Fußballabteilung, die 1927/28 die Würde des Bezirks- und Kreismeisters sowie des Zweiten in der Nordwestdeutschen Verbandsmeisterschaft errang. 

 

I. Mannschaft und Betreuer des ATS Buntentor, die 1927/28 die Meisterschaft ihres Bezirks und Kreises errang

 

Aber auch die Handball-Abteilung stieg bis zur Spitze des hiesigen Bezirks auf und konnte als erster Verein dem langjährigen und ununterbrochenen Bezirks- und Kreismeister VSK Gröpelingen die ersten Niederlagen beibringen. Und diese modischen Damen posieren um 1925 als Meisterinnen des Bremer Arbeiterinnen-Schlagballs: 

 

 

Inzwischen hatten sich auch die Leichtathleten des ATS eine achtbare Stellung im Bezirk Bremen erworben. Bei den Bezirks-Meisterschaften 1927 gelang es ihnen, zwölf Meisterschaften zu erringen. Auch der Spielmannszug mit seinen ausgezeichneten Leistungen hatte eine führende Stellung weit über Bremen hinaus. Auf den Aufbau und die Entwicklung des in Bremen um 1925 gegründeten Bezirks-Spielmannszuges übten die ATS-Spielleute einen hervorragenden Einfluss aus. 

 

Spielammszug des ATS Buntentor bei einem Ausflug, um 1930

 

Ab 1930 wurden die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in Deutschland allgegenwärtig. Arbeitslosigkeit stellte sich ein, für viele über mehrere Jahre. Das hatte Auswirkungen auf den Verein, denn einer nicht unerheblichen Zahl von Mitgliedern musste der Monatsbeitrag gestundet, ermäßigt oder ganz erlassen werden. Die Reisekosten zu Spielen nach außerhalb Bremens aufzubringen fiel den Erwerbslosen immer schwerer. Aber durch die Hilfsbereitschaft untereinander wurden sie von den noch Beschäftigten mit „durchgenommen“. Auch darin zeigte sich die echte Sportler-Kameradschaft.

 

ATS-Handballer mit Gästen auf dem heimischen Sportplatz, 1924

 

Die sparsamste Bewirtschaftung der Vereinsgelder, die sich ja nach wie vor ausschließlich aus den Beiträgen zusammensetzten, konnte den Verein vor Rückschlägen nicht bewahren. Selbst auf die dringendste Neuanschaffung von Geräten musste verzichtet und das vorhandene Material bis zur Unbrauchbarkeit im Turn- und Spielbetrieb eingesetzt werden. Der verantwortungsbewussten Leitung gelang es, mit Hilfe der Einsatzbereitschaft eines großen Teiles der Mitgliedschaft, den Verein trotz aller Widrigkeiten in der Krise auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit zu halten.

 

Start zum 5000-m-Frühjahrs-Staffellauf der Bremer Arbeitersportler 1926 im Bremer Bürgerpark

 

Die schwärzeste Zeit seines Bestehens erlebte der Verein 1933. Zwar warfen die politischen Ereignisse ihre Schatten weit voraus, aber von den Ausmaßen der hereinbrechenden Katastrophe war nicht die leiseste Vorstellung vorhanden. Auf Grund der neu erlassenen Verordnung über den Schutz von Führer, Volk und Staat wurden sämtliche Vereine des großen Arbeiter-Turn- und Sportbundes aufgelöst und ihre Vermögen beschlagnahmt.

Wohl konnte der ATS Buntentor zunächst noch unter einem abgewandelten neuen Namen und einer neuen Leitung seinen Betrieb aufrechterhalten, aber im Jahre 1934 wurde er zusammen mit den übrigen vier noch bestehenden Bremer Vereinen des einstigen Arbeiter-Turn- und Sportbundes endgültig aufgelöst. 

 

 

In völliger Verkennung der großen Verdienste, die diese Vereine um die Entwicklung und Verbreitung einer großen turnerischen Bewegung errungen hatten, stießen die politischen Machthaber mehr als 1½ Millionen Menschen aus der Gemeinschaft der Sporttreibenden aus. Darüber hinaus wurde eine große Zahl der prominentesten Mitglieder der Vereine noch politisch verfolgt. Ein Teil der Arbeitersportler versuchte in anderen Vereinen oder Organisationen Betätigungsmöglichkeiten zu finden. Aber viele stellten jegliche Art von organisierten Leibesübungen ein.

 
Platz des ATS Buntentor im Frühjahr 1933; noch wehen die Fahnen der Republik und des ATSB am Mast.

 

Viele Freundschaften unter den Mitgliedern waren in der langen Zeit der Zusammenarbeit entstanden. Höhepunkte des gesellschaftlichen Vereinslebens waren immer die großen Festbälle im Frühling, Sommer und Herbst, wobei das Stiftungsfest als der zentrale Mittelpunkt all dieser Veranstaltungen meistens mit dem Herbstfest zusammenfiel. Daneben standen oft noch kleinere Feiern zu Ostern, Pfingsten, Weihnachten und Silvester an. Die einzelnen Abteilungen warteten dazu noch mit eigenen Veranstaltungen auf, zu denen selbstverständlich immer alle Vereinsmitglieder eingeladen waren. 

Die in diesem Zusammenhang entstandenen Freundschaften blieben über die Auflösung hinweg erhalten. Erst der Zweite Weltkrieg mit seinen verheerenden Folgen konnte die bis dahin noch bestehenden Kontakte untereinander lösen. Das schien das endgültige Aus des Vereins zu sein.

 

ATS-Leichtathleten, Anfang der 30er Jahre. Gut sichtbar auf den Trikots ist das heute noch aktuelle Vereinsemblem.

 

Der vollkommene Zusammenbruch im Jahre 1945 schien jede Schaffenskraft auf allen Gebieten des Lebens ausgelöscht zu haben. Die Besatzungsmächte verboten zunächst alle bestehenden Organisationen, da ja alle im Sinne des Nationalsozialismus gleichgeschaltet waren, so auch die Sportvereine. Bei Neugründungen befürchteten die Bremen besetzenden US-Amerikaner, dass hier vielleicht militärische Ausbildung betrieben werden könnte. Aber schließlich erteilten sie im Oktober 1945 die Genehmigung für Sportgemeinschaften innerhalb der Polizeireviere in den einzelnen Bremer Stadtteilen.

 

Mitglieder des bürgerlichen VfB Komet Bremen, dem sich zahlreiche ATSler nach der Zerschlagung ihres Vereins anschlossen, Aufnahme vom 17. Juli 1938. Das kleiner der beiden Trikot-Embleme ist das des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen.

 

Aus einer dieser Sportgemeinschaften, nämlich der SG Buntentor, ist dann der ATS Buntentor von 1902 e.V. wieder erstanden, nachdem die westlichen Besatzungsmächte es zuerst den Vereinen des ehemaligen Arbeiter-Turn- und Sportbundes wieder erlaubten, in der alten Form und Gestalt aufzuerstehen. 1946 wurde dem ATS dann ein Platz am Kuhhirten, ebenfalls auf dem Stadtwerder und nur wenige hundert Meter vom alten Sportplatz, zugeteilt.

 

 

Heute ist der ATS Buntentor ein Großverein mit zahlreichen, auch weniger traditionellen Sportarten (Lacrosse, Quidditch, Jugger, Floorball), aber immer noch selbständig und ehrenamtlich geführt. Als Institution im Stadtteil ist er besonders im Breitensport engagiert, als Gemeinschaft für 2500 Freizeitsportler, vor allem aus der näheren Umgebung. Sportgruppen, die sich selbstorganisiert dem ATS anschließen wollen, sind immer willkommen. Und wie seit 1902, so wird auch jetzt noch viel Wert auf Eigenarbeit gelegt. So realisierte man in jüngerer Vergangenheit das "Sporthaus Kornstraße", und momentan entsteht mit viel freiwilliger Arbeit der Mitglieder ein neues Umkleidegebäude am Kuhhirten.

Vor allem auf der Vorstandsebene ist man sich der Arbeitersport-Vergangenheit sehr bewusst und versuchen, diese auch den Mitgliedern näher zu bringen. So sind z. B. in den Umkleidebereichen Folien mit Infos über die Vereinszeit vor 1933 angebracht. Jugendfußballer wurden während eines Seminars zum Thema "Rechtsextremismus" auch zur Vergangenheit des eigenen Vereins geschult. 

 

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Dieser geschichtliche Abriss basiert auf der Chronik von 2002 zum 100. Geburtstag des ATS Buntentor. Federführend bei dieser Gemeinschaftsproduktion war Ehrenmitglied Günter Albrecht (1927-2019). Für die Redaktion dieses Beitrags danken wir vielmals Gerrit Süßmann und für die Bilder dem Archiv des ATS Buntentor

 

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© Christian Wolter

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