Das Unglück von Greifswald

 

Der Sport, so segensreich er auch wirkt, fordert auch Menschenleben. Größere Opferzahlen resultieren meist aus Zuschauerkatastrophen. Am 18. Juli 1909 kamen in der Radrennbahn am Botanischen Garten in Berlin 9 Menschen durch eine Schrittmacher-Maschine ums Leben. Am 15. April 1928 verloren bei einem Straßenbahn-Unglück 5 Besucher des Spieles Hertha gegen Tennis Borussia ihr Leben. Auch dem Arbeitersport blieb eine solche Tragödie nicht erspart; und weil er nicht wie der bürgerliche Sensationssport nur auf das Zuschauen angelegt war, zählten die Opfer dieses Unglücks zu den aktiven Sportlern. 

Zur Stärkung der Greifswalder "Rot Sport"-Spartakiade am Pfingsten 1931 reisten 400 Berliner "Fichte"-Sportler an. Viele von ihnen warteten am Sonntagmorgen im Garten des Gewerkschaftshauses Stralsunder Straße 27/28 auf den Beginn der Manifestationen und Wettkämpfe, als plötzlich die 3 m hohe Mauer zum Nachbargrundstück einstürzte. 20 in ihrem Schatten ruhende Sportler wurden unter den Steinen begraben.

 

 

Drei Berliner wurden nur noch als Leichen geborgen: Emil Meyer (60), Funktionär bei den Freidenkern, der Roten Hilfe und dem Einheitsverband der Metall-Arbeiter Berlins und sein alter Kumpel Ludwig Muralewitz (60), "der seit 1919 ununterbrochen die `Rote Fahne`las, Vater von fünf nunmehr verwaisten Kindern". Emil Schröder (39), Führer der Weddinger "Fichte"-Schützen und bis vor kurzem noch Reichsführer der kommunistischen Arbeiter-Schützen, von den herabstürzenden Steinen bis zur Unkenntlichkeit entstellt, konnte nur anhand seiner Papiere identifiziert werden. Die 10jährige Ursula Schneider, erst kürzlich bei den "Fichte"-Schwimmern eingetreten, erlag ihren Verletzungen im Krankenhaus.

Unter den ca. 15 schwerverletzt Überlebenden war auch eine dreiköpfige Familie. Tragisch ragte auch das Schicksal der Familie Dudek heraus. Der Vater war am Vortag mit seinem Motorrad am Bahnhof Fürstenberg tödlich verunglückt. Seiner Witwe wurde die traurige Nachricht im Gewerkschaftsgarten überbracht; wenige Minuten bevor sie und ihre Tochter beim Wandeinsturz selbst schwer zu Schaden kamen.

 

 

Als Schuldige des Unglücks wurden Baupolizei und bürgerliche Magistratsherren von Greifswald ausgemacht, die schon länger Kenntnis von der Baufälligkeit der Mauer hatten. Noch am Pfingstsonntag forderte ein Protestmarsch von 1000 Arbeitern in der Hansestadt Absetzung und Verhaftung der Verantwortlichen. Verständlicherweise wollten die Greifswalder Sportgenossen die Spartakiade nach dem Unglück abbrechen, auf Drängen der Berliner wurde das Programm aber wie vorgesehen durchgeführt.

Am Pfingstmontag gab es eine weitere Kundgebung mit großer Anteilnahme der Einheimischen. Die aufgebrachte Menge setzte sich über das Platzverbot auf dem Marktplatz hinweg. Kommunistische Redner forderten das "Einsetzen einer Untersuchungs-Kommission, in der alle revolutionären Arbeiterorganisationen Greifswalds vertreten sein müssen, und unter deren Kontrolle die Untersuchung geführt wird", außerdem die "sofortige Auszahlung von vorläufig 1000 Mark für die Hinterbliebenen, kostenlose Überführung nach Berlin und Bestattung der Opfer durch die Stadt Greifswald", angemessene Unterstützungen der Schwerverletzen und ihrer Familien sowie Bezahlung aller Behandlungs- und Folgekosten. Und darüber hinaus noch die Erstattung der Spartakiade-Kosten von 900 Mark, die kostenlose Überlassung von Turnhallen und Jugendheimen an den Arbeitersportverein "Fichte" Greifswald, umfanggreiche Maßnahmen zur Bausicherung bis hin zur Neupflasterung der Stralsunder Straße usw.

 

 

Die Reichsleitung der "Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit", Rote Hilfe und ASV "Fichte" Groß-Berlin stellten eine Sammelaktion in Aussicht. Am 28. Mai äußerte sich auch die KPD-Leitung zum Unglück und erinnerte an Berliner Arbeitersportler, die in den zurückliegenden Monaten durch Polizei und SA umgekommen waren: Oskar Owege (20) und Erich Frischmann (26), beide von Schutzpolizei erschossen, Otto Grüneberg (22), Erich Ziemke (22) und Max Schirmer (32), alle drei vom SA-Sturm 33 ermordet, Ernst Nathan.

Auf der Stempelstelle Lothringer Straße führten die Erwerbslosen am 27. Mai "zum Gedenken der Greifswalder Opfer und als Protest gegen die Baupolizei und den Magistrat einen zehnminütigen Stempelstreik durch".

Der Magistrat von Greifswald übernahm wegen der allgemeinen Empörung unbürokratisch die Einäscherung der vier dort zu Tode Gekommenen, die Urnenüberführung nach Berlin sowie die selbst von der "Roten Fahne" gelobten Behandlungen der Verletzten in der Greifswalder Uniklinik. Der in Fürstenberg verunglückte Motorrad-Fahrer wurde im Krematorium Wilmersdorf eingeäschert. 

 

 

Für Montag, den 1. Juni, wurde im Fichte-Heim (Köpenicker Straße 108 in Baumschulenweg) eine Gedenkkundgebung angesetzt. Von dort sollte der Trauerzug zum Friedhof in Friedrichsfelde, der traditionellen Grablege gefallener Sozialisten und Kommunisten, führen. Der Berliner Polizeipräsident Albert Grzesinski (SPD) erteilte zunächst die Genehmigung, um sie wenig später zu kassieren. 

Im Schreiben an das Arbeiter-Sport- und Kulturkartell begründete Grzesinski dies mit Zusammenstößen in der Nacht vom 29. auf den 30. Mai, "an denen Mitglieder der Kommunistischen Partei und ihrer Hilfs- und Nebenorganisationen, zu denen auch die Ihrige gehört, in hervorragendem Maße beteiligt waren. Durch diese Vorfälle ist eine derartige Beunruhigung der Bevölkerung eingetreten, daß nach den Umständen zu besorgen ist, daß durch die Zulassung des Aufzuges die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet würde."

 

 

Die Trauerkundgebung fand dann mit einem Tag Verspätung doch wie geplant statt, laut "Rote Fahne" mit rund 10.000 Teilnehmern. Unter der Schlagzeile "Polizeischüsse auf Berliner Sportler" berichtete das KPD-Blatt außerdem: "Kurz vor Redaktionssschluß erfahren wir von brutalen Polizei-Attacken in der Frankfurter Allee. Nach Beendigung der grandiosen Gedenkkundgebung für die getöteten roten Sportler in Friedrichsfelde bildeten sich in der Frankfurter Allee mehrere Demonstrationszüge von zurückkehrenden Arbeitern. An der Ecke Vogtstraße wurden von der Polizei 10-15 Schüsse abgefeuert. Die Polizei lud einen verletzten Straßenpassanten auf den Wagen. Ungefähr 30 Arbeiter wurden verhaftet.

An allen Ecken wurden kurze Versammlungen durchgeführt. Auch an der Ecke Jungstraße wurde von der Polizei scharf geschossen. In der Gabelsbergerstraße holte die Polizei eine aus dem Fenster gehängte rote Fahne herunter ... Die ununterbrochenen Protestkundgebungenm, bei denen Rufe gegen die Polizei, gegen Notverordnungen und Demonstrationsverbot ausgebracht wurden, dauerten bis 11 Uhr abends an."

 

 

Der Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde, wo unsere Sportgenossen ihre letzte Ruhe fanden, wurde schon zur Kaiserzeit bekannt als Friedhof der Sozialisten. 1900 wurde hier der SPD-Gründer Wilhelm Liebknecht beigesetzt und 1919 die kommunistischen Opfer des Spartakus-Aufstandes, darunter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Das 1926 nach einem Entwurf von Mies van der Rohe errichtete Revolutionsdenkmal wurde zu einer kommunistischen Pilgerstätte auch für Arbeitersportler. Obiges Foto aus dem Berliner "Arbeiter-Fußball" zeigt den Besuch Düsseldorfer "Rot Sport"-Fußballer am 11. August 1929 zwischen zwei Spielen gegen Berliner Arbeitermannschaften.

 

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Quellen: "Mecklenburgische Volks-Zeitung" vom 27. Mai 1931, "Die Rote Fahne" vom 27. Mai bis 3. Juni 1931

Titelbild: Geschmückter Reisebus kommunistischer Arbeitersportler aus dem Ruhrpott anlässlich ihrer Fahrt zum "Rot Sport"-Reichstreffen zu Pringsten 1930 in Erfurt

 

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© Christian Wolter

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